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Findest du?«
»Ja, finde ich. Okay, ich hab meinen Kopf und du hast deine bescheuerten Zwangsvorstellungen, deine Schrullen, deine Macken, aber insgesamt lief es bis heute doch ganz gut.«
»Und warum sollte sich das jetzt ändern?«
»Pfff... Da sieht man, daß du die Weiber nicht kennst. Keine Angst, ich sag das nicht, um dich zu beleidigen, okay? Aber es stimmt halt. Setz irgendwo Õne Tussi hin, und sofort gibtÕs Chaos, Alter. Alles wird kompliziert, alles wird nervig, und selbst deine besten Kumpels sind irgendwann eingeschnappt, weißt du? Was lachst du denn?«
»Wie du dich ausdrückst. Wie ein Cowboy. Ich wußte nicht, daß ich dein... dein Kumpel bin.«
»Okay, laß gut sein. Ich finde nur, du hättest es mir vorher sagen können, das ist alles.«
»Ich wollte es dir sagen.«
»Wann?«
»Hier, jetzt, über meinem Kakao, wenn du mir die Zeit gelassen hättest, ihn zuzubereiten.«
»Entschuldige mich. Das heißt, nein, Scheiße, du kannst mich nicht entschuldigen, stimmtÕs?«
»Richtig.«
»Mußt du zur Arbeit?«
»Ja.«
»Ich auch. Beeil dich. Ich geb dir unten eine Schokolade aus.«

Als sie schon im Hof waren, spielte Franck seine letzte Karte aus:
»Außerdem wissen wir gar nicht, wer sie ist. Wir wissen nicht mal, wo die Kleine herkommt.«
»Ich will dir zeigen, wo sie herkommt. Komm mit.«
»Tzz... Glaub nicht, daß ich die sieben Etagen zu Fuß hochlatsche.«
»Doch, genau das glaube ich. Komm mit.«
Es war das erste Mal, seit sie sich kannten, daß Philibert ihn um etwas bat. Er schimpfte vor sich hin und folgte ihm zur Hintertreppe.

»Verflucht, ist das kalt hier drin!«
»Das ist noch gar nichts. Wart nur, bis wir unterm Dach sind.«

Philibert öffnete das Vorhängeschloß und stieß die Tür auf.
Franck sagte einige Sekunden lang gar nichts.
»Hier haust sie?«
»Ja.«
»Bist du sicher?«
»Komm, ich zeig dir noch etwas.«
Er führte ihn zum Ende des Flurs, stieß mit dem Fuß eine weitere klapprige Tür auf und fügte hinzu:
»Ihr Badezimmer. Unten das WC und darüber die Dusche. Du mußt zugeben, das ist genial.«

Schweigend gingen sie die Treppe hinunter.

Franck fand erst nach dem dritten Kaffee seine Stimme wieder:
»Okay, eine Sache nur. Du erklärst ihr genau meine Situation, wie wichtig es ist, daß ich nachmittags schlafe und so.«
»Ja, das werde ich ihr sagen. Wir können es ihr zusammen sagen. Aber in meinen Augen dürfte das gar kein Problem sein, sie wird nämlich auch schlafen.«
»Warum?«
»Sie arbeitet nachts.«
»Was macht sie denn?«
»Putzen.«
»Pardon?«
»Sie geht putzen.«
»Bist du sicher?«
»Weshalb sollte sie mich anlügen?«
»Keine Ahnung.Vielleicht ist sie Callgirl.«
»Dann hätte sie doch mehr... mehr Rundungen, oder?«
»Jaaa, hast recht... He, bist ja doch nicht so blöd!« fügte er hinzu und gab ihm einen Klaps auf den Rücken.
»V... Vorsicht, jetzt... jetzt ist mir das Croissant aus der Hand gefallen, I... Idiot... Sieh nur, man könnte meinen, eine verendete Qualle.«
Franck scherte sich nicht darum, er las die Schlagzeilen des Parisien auf der Theke.

Sie schüttelten sich beide.
»Sag mal?«
»Was?«
»Hat sie keine Familie, die Tussi?«
»Weißt du«, antwortete Philibert und band seinen Schal, »dies ist eine Frage, die ich dir nie gestellt habe...«

Franck sah auf und lächelte ihn an.

An seinem Küchenherd angekommen, bat er seinen Kollegen, ihm etwas Brühe abzuzweigen.
»Verstanden?«
»Was?«
»Und richtig gute, hörst du?«

2. Kapitel
Camille hatte beschlossen, die halbe Tablette Lexotanil, die ihr der Arzt für den Abend verordnet hatte, nicht länger zu nehmen. Zum einen ertrug sie den halbkomatösen Zustand nicht mehr, in dem sie schwebte, zum anderen wollte sie auf keinen Fall riskieren, sich daran zu gewöhnen. Ihre ganze Kindheit hindurch hatte sie die hysterische Angst ihrer Mutter miterlebt, ohne ihre Kapseln einschlafen zu müssen, und diese Anfälle hatten sie nachhaltig traumatisiert.

Sie war aus ihrem x-ten Mittagsschlaf aufgewacht, hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wie spät es war, beschloß jedoch aufzustehen, sich einmal zu schütteln, sich endlich anzuziehen und wieder in ihr Zimmer zurückzukehren, um zu sehen, ob sie in der Lage war, ihr kleines Leben dort aufzunehmen, wo sie es zurückgelassen hatte.

Als sie auf dem Weg zur Hintertreppe durch die Küche lief, sah sie unter einer Flasche, die mit einer gelblichen Flüssigkeit gefüllt war, eine Nachricht.
In einem Topf aufwährmen, auf keinen fall zum Kochen bringen. Die Nudeln Hinzufügen und 4 Minuten Köcheln lassen, dabei ab und zu Umrühren.
Das war nicht Philiberts Handschrift.

Ihr Vorhängeschloß war aufgebrochen worden, und das wenige, was sie auf dieser Erde besaß, ihre letzten Bindungen, ihr kleines Königreich, war verwüstet worden.

Instinktiv stürzte sie sich auf den kleinen roten Koffer, der aufgeschlitzt auf dem Boden lag. Nein, alles in Ordnung, sie hatten nichts mitgenommen, ihre Zeichenmappen waren noch da.
Mit verzerrtem Gesicht und Übelkeit in der Kehle, fing sie an, ein wenig aufzuräumen, um zu sehen, was fehlte.
Es fehlte nichts, und das aus gutem Grund, denn sie besaß auch nichts. Doch, einen Radiowecker. Das war alles. Das ganze Gemetzel für ein Teil, das sie wahrscheinlich für fünfzig Franc bei einem Chinesen gekauft hatte.

Sie sammelte ihre Kleider zusammen, steckte sie in einen Karton, bückte sich nach ihrem Koffer und ging, ohne sich umzudrehen. Erst auf der Treppe ließ sie sich etwas gehen.

Vor der Tür zum Mägdezimmer angekommen, schneuzte sie sich, stellte ihren ganzen Plunder auf dem Treppenabsatz ab und setzte sich auf eine Stufe, um sich eine Zigarette zu drehen. Die erste seit langem. Das Treppenhauslicht war ausgegangen, aber das machte nichts, im Gegenteil.
Im Gegenteil, murmelte sie, im Gegenteil.

Sie dachte an die schwammige Theorie, derzufolge man nichts unternehmen sollte, solange man im Sinken begriffen war, sondern warten, bis man den Grund berührte, von dem man sich abstoßen konnte, um wieder an die Oberfläche zu gelangen.
Okay.
Da war sie jetzt, oder?

Sie warf einen Blick auf den Karton, fuhr sich mit der Hand über das kantige Gesicht und rückte ein Stück zur Seite, um ein widerliches Krabbeltier durchzulassen, das zwischen zwei Ritzen hindurchflitzte.

Ich will mich nur vergewissern. Da bin ich jetzt, oder?

Als sie in die Küche kam, war er es, der zusammenfuhr:
»Oh! Sie sind da? Ich dachte, Sie schlafen.«
»Guten Tag.«
»Lestafier, Franck.«
»Camille.«
»Haben Sie meine... meine Nachricht gefunden?«
»Ja, aber ich...«
»Sind Sie am Umziehen? Brauchen Sie Hilfe?«
»Nein, ich... Ich habe nicht mehr als das, um ehrlich zu sein. Bei mir ist eingebrochen worden.«
»Oh Scheiße.«
»Sie sagen es. Was anderes fällt mir dazu auch nicht ein. Gut, ich werde mich wieder hinlegen, mir schwirrt der Kopf und...«
»Die Consommé, soll ich sie Ihnen zubereiten?«
»Pardon?«
»Die Consommé «
»Was ist denn eine Consommé?«
»Na ja, die Brühe!« sagte er genervt.
»Oh Pardon. Nein, danke. Ich will erst ein wenig schlafen.«

»He!« rief er ihr nach, als sie schon im Flur war, »wenn Ihnen der Kopf schwirrt, dann liegt das daran, daß Sie nicht genug essen!«

Sie seufzte. Diplomatie, Diplomatie. So gut, wie der Typ aussah, sollte man den ersten Auftritt besser nicht vermasseln. Sie ging zurück in die Küche und setzte sich an den Tisch.
»Sie haben recht.«

Er murmelte etwas in seinen Bart. Na klar. Natürlich hatte er recht. Jetzt würde er sich verspäten.
Er wandte ihr den Rücken zu und legte los.

Er goß den Inhalt aus dem Topf in einen tiefen Teller, holte ein Stück Küchenpapier aus dem Kühlschrank und öffnete es vorsichtig. Irgendein grünes Zeug, das er über die dampfende Suppe streute.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 26.10.2005