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»Die Velocipedisten glitschen vorbei«

Der Jahnplatz: Bielefelds Zentrum einst und jetzt - Eine historische Notiz in drei Teilen (1)

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). »Für den Stadtbezirk Bielefeld wird hiermit der Jahnplatz als Ortsmittelpunkt . . . bestimmt.« Dieser Erlass des Polizeipräsidenten von 1932 und einige historische Fotos inspirieren uns zu einer historischen Notiz in drei Teilen.

Nicht nach Turnvater Jahns Büste, die 1883 etwa dort enthüllt wurde, wo Passanten heute aus der Bahnhofstraße in den Tunnel abtauchen, sondern nach der bereits 1861 gepflanzten Jahnseiche ist der Platz benannt, der in seinen Anfängen noch ein schönes Fleckchen innerhalb des ausufernden Häusermeeres gewesen sein muss.
Heute dagegen . . .
Aber lassen wir das Klagen. Fast auf den Tag genau vor 144 Jahren feierten die Bürger ein Fest auf der »Anlage vor dem Niedernthore« (das befand sich ungefähr in Höhe der heutigen Geschäfte Klötzer und Niemeyer). Sie zogen mit Fackeln herbei und erleuchteten die Oktobernacht mit Bengalischen Feuern. 22 Jahre später, besonnt vom Glanz des Wilhelminismus, pries Albrecht Delius, Ehrenvorsitzender des Bielefelder Turnvereins, die Stein gewordene Visionen vom Deutschen Reich: »Hier des Reiches Post, dort des Reiches Telegraphie. Leset dort rot in weiß den Namen ÝJahnsplatzÜ.«
Jahnsplatz mit »s« wie in dem schönen Satz: Nu, Froll'n Jrete, jeh'n Se mit nach'n Gahnsplatz . . .
Die Entwicklung des Platzes dokumentiert »die in gesinnungstüchtiger Freiheit aufblühende Stadt«. Richten wir einmal den Blick auf die Einmündung der Bahnhofstraße mit dem »Hotel zur Post« zur Linken. Weit schoben sich der Biergarten und die malerische Glasveranda vor. Heute ist die Häuserfront (»Boulevard«-Buchhandlung) zurückgenommen; hier verläuft die Alfred-Bozi-Straße, die damals Coblenzer, später Hindenburgstraße hieß.
Rechts der Bahnhofstraße, wo jetzt die Commerzbank steht, thronten um die Jahrhundertwende ehrwürdige Postbeamte hinter ihrem Schalterglas. 1904 zogen sie ins Gebäude an der Herforder Straße um, und eine Bank übernahm die freigewordenen Räume. Geldgeschäfte hin oder her: An Sonntagen eilte alles, »was sich sehen will, was sich sprechen will, nach dem Centrum der Stadt.« Wohl 20mal flanierte man rund um den Turnvater, und das Trottoir soll vor lauter Menschen - Bielefeld hatte 63 046 Einwohner, nicht mehr sichtbar gewesen sein.
»Velocipedisten hat man schon eine stattliche Schaar, die vorbeiglitschen wie der Wind.« Und die Straßenbahn! Seit Dezember 1900 verband eine Linie die Arbeitersiedlungen in Brackwede mit denen in Schildesche; die Tram fuhr durch Niedern- und Bahnhofstraße. Die Linie 2 verkehrte seit Juli 1902 vom Bahnhof durch Herforder Straße und Niederwall nach Sieker. Im Winter mit Schneepflug, im Sommer mit Wassersprenger gegen den Staub.
Der Herr, der während der Fahrt absprang, landete unsanft auf dem Hosenboden, und die Dame verbog sich das Gestell unter der Krinoline. So glimpflich gingen vor 100 Jahren Verkehrsunfälle auf dem Jahnplatz ab.
Am Donnerstag lesen Sie: Wie reinigt man den Fahrdamm gründlich vom Fußgängerverkehr?

Artikel vom 15.10.2005