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Pinter legt den
Abgrund frei

Überraschende Wahl der Akademie

Stockholm (dpa). Der diesjährige Nobelpreis für Literatur geht völlig überraschend an den britischen Dramatiker Harold Pinter. Die Schwedische Akademie in Stockholm lobte gestern den Theaterautor, der vor wenigen Tagen 75 Jahre alt wurde, als den »hervorragendsten Vertreter des englischen Dramas in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhundert.

»Pinter hat in seinen Dramen den Abgrund unter dem alltäglichen Geschwätz freigelegt und ist in den geschlossenen Raum der Unterdrückung eingebrochen«, hieß es in der Begründung. Der Chef der Schwedischen Akademie, Horace Engdahl (56), begründete die Vergabe an Pinter auch mit dessen literarischer Verarbeitung politischer Probleme. Engdahl sagte im Rundfunk: »Von einem existenzialistisch begründeten Ausgangspunkt in den fünfziger und sechziger Jahren ist der späte Pinter politischer geworden. Er hat sich immer mehr politisch begründetem Leiden zugewandt.«
Im vergangenen Jahr hatte mit der Österreicherin Elfriede Jelinek ebenfalls eine Autorin den mit 1,1 Millionen Euro dotierten Nobelpreis erhalten, die vornehmlich als Dramatikerin hervorgetreten ist. Die Überreichung findet traditionell am Todestag des Preisstifters Alfred Nobel am 10. Dezember 2005 in Stockholm statt.
Pinter stammt aus einer jüdischen Kleinbürgerfamilie und wurde am 10. Oktober 1930 in London geboren. Er habe in seinen bisher etwa 30 Dramen »aus der menschlichen Alltagssprache heraus dramatische Situationen geschaffen, die für uns die menschliche Existenz auf eine einzigartige Weise bloßstellen«, sagte Engdahl weiter. Der Engländer sei außerdem »als Theatermann ein ausgesprochener Profi«: »Schauspieler lieben es, seine Stücke zu spielen. Er hat Dramaturgen auf der ganzen Welt fantastisches Material für ihre Arbeit gegeben.« Pinter Theaterstücke hätten ihren Ausgangspunkt oft in einem geschlossenen Raum: »Die dort eingeschlossenen Personen werden dann vom Dramatiker Pinter zum Ausbruch gezwungen.«
Als Dramatiker debütierte Pinter mit »The Room« (»Das Zimmer), das 1957 in Bristol uraufgeführt wurde. Weitere frühe Dramen sind »The Birthday Party«, 1957, (»Die Geburtstagsfeier«), ursprünglich ein legendäres Fiasko, aber später eines seiner meistgespielten Stücke, und »The Dumb Waiter«, 1957, (»Der stumme Diener«). Seinen endgültigen Durchbruch erzielte er mit »The Caretaker«, 1959, (»Der Hausmeister«), dem unter anderem 1964 »The Homecoming« (»Die Heimkehr«) folgte. Im typischen Pinter-Stück, so die Akademie weiter, begegne man Menschen, die sich gegen fremde Manipulationen oder ihre eigenen Triebe dadurch verteidigen, dass sie sich hinter einem reduzierten und kontrollierten Dasein verschanzen. Ein anderes Hauptthema sei Flüchtigkeit und Unfassbarkeit der Vergangenheit.
Als beliebteste Stücke in Deutschland nannte der Deutsche Bühnenverein die Werke »Der Hausmeister« und »Der stumme Diener«. Derzeit wird Pinter allerdings hierzulande fast gar nicht mehr gespielt. »Da können sie lange suchen«, sagte Franz Wille von der Fachzeitschrift »Theater heute«. In den vergangenen Jahren gab es Inszenierungen in Bochum, Berlin, Potsdam und Memmingen.

Artikel vom 14.10.2005