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Mann! Du nervst. Komm schon. Husch, husch ins Körbchen.«
»Ist Philibert nicht da?«
»Nee, der ist bei Napoleon. Los, geh schlafen, sag ich.«
Das Mädchen lachte noch lauter.
»Wo ist der Lokus? He, wo ist der Lokus?«
»Stell das leiser, oder ich ruf die Bullen.«
»Ja, ja, genau, ruf die Bullen und hör auf, uns auf den Geist zu gehen. Los! Zieh Leine, sag ich!«

Pech für ihn, daß Camille ein paar Stunden mit ihrer Mutter hinter sich hatte.
Aber das konnte Franck nicht wissen.
Pech für ihn, also.

Sie machte auf dem Absatz kehrt, ging in sein Zimmer, trampelte über seine Sachen, machte das Fenster auf, zog den Stecker der Stereoanlage heraus und warf das Ding die vier Stockwerke hinunter.
»Ist schon okay. Das mit den Bullen hat sich erledigt.«
Dann, im Hinausgehen:
»He... Mach den Mund zu, sonst fängst du noch Fliegen.«
Sie schloß sich ein. Er trommelte, schrie, grölte, drohte ihr mit Vergeltung. Sie betrachtete sich währenddessen lächelnd im Spiegel und wurde von einem interessanten Selbstporträt überrascht. Leider war sie nicht in der Verfassung, irgendetwas zuy malen: zu feuchte Hände.

Sie wartete, bis die Wohnungstür ins Schloß fiel, wagte sich dann in die Küche, aß eine Kleinigkeit und legte sich schlafen.

Er rächte sich mitten in der Nacht.
Gegen vier wurde Camille von einem schmachtenden Spektakel im Zimmer nebenan geweckt. Er grunzte, sie stöhnte. Er stöhnte, sie grunzte.
Sie stand auf und überlegte einen Moment im Dunkeln, ob sie nicht auf der Stelle ihre Sachen packen und verduften sollte.
Nein, flüsterte sie, nein, das wäre für ihn ein Triumph. Was für ein Lärm, mein Gott, was für ein Lärm. Das mußten sie absichtlich machen, das konnte nicht sein. Er feuerte sie bestimmt an, noch lauter zu sein. Himmel, war sie denn mit einem elektronischen Verzerrer ausgestattet, diese Tussi?

Er hatte gewonnen.
Ihre Entscheidung war gefallen.
Sie konnte nicht wieder einschlafen.

Am nächsten Morgen stand sie früh auf und machte sich leise fertig. Sie zog ihr Bett ab, legte die Bettwäsche zusammen und suchte einen großen Beutel, um alles in den Waschsalon zu bringen. Sie suchte ihre Sachen zusammen und stopfte sie in den gleichen kleinen Karton wie beim Einzug. Es ging ihr nicht gut. Ihr machte nicht so sehr zu schaffen, daß sie in ihr Zimmer zurückkehren sollte, sondern vielmehr, daß sie dieses Zimmer verlassen mußte. Den Staubgeruch, das Licht, das gedämpfte Flappen der seidenen Gardinen, das Knarren, die Lampenschirme und den Spiegel, in dem alles weicher aussah. Das seltsame Gefühl, sich außerhalb der Zeit zu befinden. Weit weg von allem. Philiberts Vorfahren hatten sie schließlich akzeptiert, und sie hatte sich damit vergnügt, sie anders und in anderen Situationen zu zeichnen. Der alte Marquis vor allem hatte sich als viel lustiger entpuppt als erwartet. Fröhlicher, jünger. Sie zog den Stecker ihres Kamins heraus und hätte nichts gegen einen Kabelaufwickler gehabt. Sie traute sich nicht, ihn über den Flur zu schieben, und ließ ihn vor der Tür stehen.
Dann nahm sie ihren Skizzenblock, kochte sich einen Tee und setzte sich ins Badezimmer. Sie hatte sich vorgenommen, es mitzunehmen. Es war das schönste Zimmer im ganzen Haus.

Sie fegte Francks Sachen beiseite, sein Deo Mennen-X, seine schäbige alte Zahnbürste, seine Bic Rasierklingen, sein Gel für empfindliche Haut - das beste - und seine Klamotten, die nach Frittierfett stanken. Sie feuerte alles in die Badewanne.

Als sie diesen Raum zum ersten Mal betrat, hatte sie ein verzücktes »Oh!« nicht unterdrücken können, und Philibert hatte ihr erzählt, daß es sich um ein Modell des Etablissements Porcher aus dem Jahre 1894 handelte. Eine Grille seiner Urgroßmutter, der kokettesten Pariserin der Belle Epoque. Ein wenig zu kokett im übrigen, den Augenbrauen seines Großvaters nach zu urteilen, wenn er von ihr und ihren Possen erzählte. Ganz Offenbach war da.

Als die Badewanne eingebaut wurde, versammelten sich alle Nachbarn, um sich zu beschweren, weil sie fürchteten, sie würde durch den Fußboden krachen, aber auch, um sie zu bewundern und vor Entzücken außer sich zu geraten. Sie war die schönste im ganzen Haus, vielleicht sogar in der Straße.

Sie war intakt, etwas angeschlagen, aber intakt.

Camille setzte sich auf den Wäschekorb und zeichnete die Form der Kacheln, die Friese, die Arabesken, die breite Porzellanbadewanne mit ihren vier krallenbewehrten Löwenfüßen, die abgenutzte Verchromung, den riesigen Brausekopf, der seit dem Ersten Weltkrieg nichts mehr ausgespuckt hatte, die Seifenschalen, die wie Weihwasserbecken herausstanden, und die halb herausgerissenen Handtuchhalter. Die leeren Flacons, Shocking von Schiaparelli, Transparent von Houbigant oder Le Chic von Molyneux, die Döschen mit Reispuder La Diaphane, die blauen Schwertlilien, die das Bidet überzogen, und die Waschbecken, so kunstvoll gearbeitet, so überreich verziert, so großzügig mit Blumen und Vögeln bedeckt, daß sie immer Skrupel hatte, ihren grauenhaften Toilettenbeutel auf die vergilbte Ablage zu stellen. Die Kloschüssel war erhalten, und der Behälter der Wasserspülung hing nach wie vor an der Wand. Sie beendete ihre Bestandsaufnahme damit, die Schwalben zu malen, die seit über einem Jahrhundert dort oben herumflatterten.

Ihr Skizzenheft war fast voll. Zwei oder drei Seiten noch...
Sie hatte nicht die Kraft, es durchzublättern, und sah darin so etwas wie ein Zeichen. Ende des Skizzenhefts, Ende der Ferien.


Sie spülte ihre Teetasse, verließ die Wohnung und zog die Tür ganz leise hinter sich zu. Während die Bettwäsche schleuderte, ging sie zu Darty unterhalb der Madeleine und kaufte eine neue Stereoanlage für Franck. Sie wollte ihm nichts schuldig sein. Sie hatte nicht die Zeit gehabt, sich die Marke seiner Anlage anzuschauen, und ließ sich vom Verkäufer an die Hand nehmen.
Es gefiel ihr gut, an die Hand genommen zu werden.

Als sie zurückkam, war die Wohnung leer. Oder still. Sie bemühte sich nicht, das herauszufinden. Sie stellte den Sony-Karton vor die Tür ihres Nachbarn, legte die Bettwäsche auf ihr ehemaliges Bett, verabschiedete sich von der Ahnengalerie, schloß die Läden und rollte ihren Kamin ins Mägdezimmer. Dort fand sie den Schlüssel nicht. Nun gut, sie stellte ihren Karton und ihren Wasserkessel darauf und ging zur Arbeit.

Je weiter der Abend fortschritt und die Kälte ihre triste Arbeit aufnahm, desto trockener wurde ihr Mund und desto härter ihr Bauch: Die Steine waren zurück. Sie stellte sich mit aller Kraft etwas Schönes vor, um nicht loszuheulen, und redete sich schließlich ein, sie sei wie ihre Mutter: durcheinander wegen der Feiertage.
Sie arbeitete still für sich.

Sie hatte keine große Lust mehr, die Reise fortzusetzen. Sie mußte den Tatsachen ins Auge sehen. Sie schaffte es nicht.
Sie würde wieder nach oben ziehen, in das Kämmerchen der Louise Leduc, und ihre Tasche abstellen.
Endlich.

Eine kurze Nachricht auf dem Schreibtisch des Herrn Exferkel riß sie aus ihren düsteren Gedanken:
Wer sind Sie? fragte eine schwarze, steile Schrift.
Sie stellte ihr Spritzfläschchen hin, legte die Lappen beiseite, setzte sich auf den riesigen Ledersessel und suchte nach zwei leeren Blättern.

Auf das erste Blatt zeichnete sie eine Art Kater Karlo, struppig und zahnlos, der sich auf einen fransigen Besen stützte und böse lächelte. Ein Liter Rotwein ragte aus seinem Kittel heraus, Proclean, die Profis etc. und er stimmte zu: Tja, das bin ich.
Auf das zweite Blatt zeichnete sie ein Pin-up-Girl der fünfziger Jahre. Hand auf der Hüfte, Schmollmund, ein Bein angewinkelt, die Brüste in eine hübsche Spitzenschürze gezwängt. Sie hielt einen Staubwedel in der Hand und gab zurück: Aber nicht doch - das bin ich.
Mit einem Textmarker hatte sie die Wangen rosa eingefärbt.

Aufgrund dieser Albernheiten hatte sie die letzte Metro verpaßt und mußte zu Fuß nach Hause gehen. Pah, darauf kam es jetzt auch nicht mehr an. Ein weiteres Zeichen nur. Sie war jetzt beinahe auf dem Grund angelangt, aber noch nicht ganz, oder?
Sie mußte sich noch etwas anstrengen.
Noch ein paar Stunden in der Kälte, und es wäre soweit.

Als sie das Tor aufmachte, fiel ihr ein, daß sie ihren Schlüssel nicht zurückgegeben hatte und daß sie ihre Sachen noch ins hintere Treppenhaus stellen mußte.
Und daß sie ihrem Gastgeber vielleicht noch eine Nachricht hinterlassen sollte?
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 04.11.2005