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Ich sagÕs dir noch mal, ich hab nur einen freien Tag in der Woche, und wenn mich dieser Tag runterzieht, tja, dann ist das das Ende für mich. Außerdem kommen jetzt die Feiertage, und ich muß noch mehr arbeiten als sonst, du könntest mir auch mal helfen, verdammt.
Moment, eine Sache noch. Eine Frau von hier hat mir erzählt, daß du die anderen nicht sehen willst, ich versteh dich gut, keine Frage, sie sind ja nicht wirklich witzig, die Leutchen hier, aber du könntest wenigstens ein Minimum mitmachen. Wer weiß, vielleicht gibt es ja noch eine andere Paulette hier, versteckt in ihrem Zimmer, die genauso verloren ist wie du. Vielleicht würde sie auch gern über ihren Garten reden und ihren wunderbaren Enkel, aber wie soll sie dich finden, wenn du hier sitzt und schmollst wie ein Kind?«

Sie sah ihn fassungslos an.

»Okay, das warÕs. Ich hab alles gesagt, was ich auf dem Herzen hatte, jetzt kann ich nicht mal mehr aufstehen, weil mir der Ar..., der Hintern weh tut. Und? Was nähst du da eigentlich?«

»Bist duÕs, Franck? Bist duÕs wirklich? Es ist das erste Mal in meinem Leben, das ich dich so viel am Stück reden höre. Du bist doch nicht krank?«
»Nee, ich bin nicht krank, ich bin nur müde. Ich hab die Schnauze voll, verstehst du?«
Sie betrachtete ihn lange, schüttelte dann den Kopf, als würde sie endlich aus ihrer Erstarrung erwachen. Sie hielt ihr Nähzeug hoch:

»Ach, das ist nichts Besonderes... Das ist für Nadège, ein ganz liebes Ding, das morgens hier arbeitet. Ich flicke ihren Pullover. Da fällt mir ein, kannst du mir mal das Garn einfädeln, ich finde nämlich meine Brille nicht?«
»Willst du dich nicht aufs Bett setzen, dann kann ich den Sessel nehmen?«

Kaum hatte er sich entspannt, schlief er bereits.
Den Schlaf des Gerechten.

Er wachte auf, als das Tablett hereingetragen wurde.

»Was ist das?«
»Abendessen.«
»Warum gehst du nicht nach unten?«
»Abends bekommen wir das Essen immer aufs Zimmer.«
»Aber wie spät ist es denn?«
»Halb sechs.«
»Was ist denn das für ein Schwachsinn? Die geben euch um halb sechs zu essen?«
»Ja, sonntags ist es so. Damit sie früher gehen können.«
»Pff... Und was ist das für ein Zeug? Das stinkt ja.«
»Ich weiß nicht, was es ist, und ich will es lieber gar nicht wissen.«
»Was ist das? Fisch?«
»Nein, sieht eher aus wie Kartoffelgratin, meinst du nicht?«
»Hör auf, das riecht nach Fisch. Und das hier, dieses braune Zeug, was ist das?«
»Kompott.«
»Nein?«
»Ich glaube schon.«
»Bist du sicher?«
»Ach, ich weiß es nicht.«

So weit waren sie in ihren Ermittlungen gekommen, als die junge Frau wieder auftauchte.
»Und? SchmecktÕs? Sind Sie fertig?«
»Moment mal«, Franck schnitt ihr das Wort ab, »Sie haben es ihr doch vor zwei Minuten erst gebracht. Lassen Sie ihr wenigstens die Zeit, in Ruhe zu essen!«
Unwirsch schloß die Frau die Tür hinter sich.
»So ist es jeden Tag, aber sonntags ist es am schlimmsten. Sie haben es eilig, nach Hause zu kommen. Man kann es ihnen nicht verdenken, oder?«
Die Alte sah zu Boden.
»Ach Omi, du Arme.«

Sie faltete die Serviette.
»Franck?«
»Ja.«
»Entschuldige bitte...«
»Nein, ich entschuldige mich. Nichts läuft so, wie ich es gern hätte. Aber das macht nichts, ich gewöhn mich allmählich dran.«
»Kann ich jetzt abräumen?«
»Ja, ja, nur zu.«
»Gruß an den Küchenchef«, fügte Franck hinzu, »es war wirklich vorzüglich.«

»Okay, ich muß langsam los.«
»Willst du noch warten, bis ich mein Nachthemd angezogen habe?«
»Klar, mach nur.«
»Hilf mir mal auf.«
Er hörte im Badezimmer Wasser laufen und drehte sich schamhaft um, während sie unter die Decke schlüpfte.
»Mach das Licht aus, mein Junge.«
Sie machte ihre Nachttischlampe an.
»Komm her, setz dich noch zwei Minuten zu mir.«
»Zwei Minuten, okay? Ich wohn hier nicht im Zimmer nebenan, ich...«
»Zwei Minuten.«
Sie legte ihm die Hand aufs Knie und stellte ihm eine Frage, mit der er zuallerletzt gerechnet hätte:
»Sag mal, dieses Mädchen, von dem du mir vorhin erzählt hast... Das bei euch wohnt... Wie ist sie so?«
»Sie ist blöd, eingebildet, mager und genauso gestört wie er.«
»Donnerwetter...«
»Sie...«
»Was sie?«
»Man könnte meinen, eine Intellektuelle. Nein, man könnte nicht nur meinen, sie ist eine. Sie und Philibert haben die Nase ständig in Büchern, und wie alle Intellektuellen können sie sich stundenlang über Sachen unterhalten, die sonst niemanden interessieren, und außerdem, was komisch ist, sie geht putzen.«
»So?«
»Nachts.«
»Nachts?«
»Ja. Ich sag doch, sie ist seltsam. Und wenn du wüßtest, wie mager sie ist. Es würde dir in der Seele weh tun.«
»Ißt sie nicht?«
»Keine Ahnung. Ist mir auch egal.«
»Wie heißt sie?«
»Camille.«
»Und wie ist sie?«
»Das hab ich dir doch schon gesagt.«
»Ihr Gesicht?«
»He, warum fragst du mich das alles?«
»Um dich länger hierzubehalten. Nein, weil es mich interessiert.«
»Na ja, sie hat ganz kurze Haare, fast eine Glatze, Richtung kastanienbraun. Blaue Augen, glaub ich. Keine Ahnung. Jedenfalls sind sie hell. Sie... ach, und außerdem ist es mir egal, hab ich dir doch schon gesagt!«
»Ihre Nase, wie ist die?«
»Normal.«
»...«
»Ich glaub auch, daß sie Sommersprossen hat. Sie... warum lachst du?«
»Nichts, ich höre dir zu.«
»Nein, ich hau jetzt ab, du gehst mir auf die Nerven.«

7. Kapitel
Ich hasse den Dezember. Diese ganzen Feste machen mich depressiv.«
»Ich weiß, Mama. Das sagst du jetzt schon zum vierten Mal.«
»Macht dich das nicht depressiv?«
»Und sonst? Warst du mal im Kino?«
»Was soll ich denn im Kino?«
»Fährst du Weihnachten nach Lyon?«
»Muß wohl. Du weißt ja, wie dein Onkel ist. Es ist ihm schnurzegal, wieÕs mir geht, aber wenn ich seine Pute verpasse, ist das gleich ein Drama. Kommst du dieses Jahr mit?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Ich arbeite.«
»Fegst du die Christbaumnadeln auf?« höhnte sie.
»Genau.«
»Willst du mich auf den Arm nehmen?«
»Nein.«
»Glaub mir, ich versteh dich. Diese ganzen Idioten rund um den Weihnachtskuchen, das ist schon schwer zu ertragen.«
»Du übertreibst. Sie sind doch eigentlich ganz nett.«
»Pfff... ihre nette Art macht mich auch depressiv.«
»Ich lade dich ein«, sagte Camille und fing die Rechnung ab. »Ich muß los.«
»Sag mal, hast du dir die Haare schneiden lassen?« fragte ihre Mutter vor dem Eingang zur Metro.
»Ich habe mich schon gefragt, ob du es noch merkst.«
»Das ist ja schrecklich! Warum hast du das gemacht?«

Camille stürmte in aller Eile die Rolltreppen hinunter.
Luft, schnell.

8. Kapitel
Sie wußte, daß sie da war, sie brauchte sie gar nicht zu sehen. Es war zu riechen.
Ein aufdringliches, süßliches Parfum, ihr drehte sich der Magen um. Sie stürmte in ihr Zimmer und sah sie im Salon. Franck fläzte auf dem Boden und lachte über eine junge Frau, die sich in den Hüften wiegte. Er hatte die Musik voll aufgedreht.
»Abend«, warf sie ihnen im Vorbeigehen zu.
Als sie die Tür zuzog, hörte sie ihn murmeln: »Das geht dich nichts an. Das braucht uns nicht zu kümmern, sag ich. Los, mach weiter.«

Das war keine Musik, das war Lärm. Ein schreckliches Stück. Die Wände, die Bilderrahmen und das Parkett bebten. Camille wartete noch einen Moment, dann ging sie hinüber:
»Du solltest die Musik etwas leiser drehen. Sonst kriegen wir Ärger mit den Nachbarn.«
Das Mädchen war stehengeblieben und hatte angefangen zu glucksen.
»He, Franck, ist sie das? Ist sie das? He? Bist du die Putze?«
Camille starrte sie lange an. Philibert hatte recht: Es war erstaunlich.
Ein Konzentrat aus Dummheit und ordinärem Gehabe. Plateauschuhe, Jeans mit Flitterkram, schwarzer BH, großmaschiger Pullover, selbstgefärbte Strähnchen und Gummilippen, nichts fehlte.
»Ja, das bin ich.« Dann an Franck gewandt, »stell das bitte leiser.« (wird fortgesetzt)

Artikel vom 03.11.2005