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Omi?«
Verflixt, sie hatte verdrießlich aussehen wollen, konnte aber nicht umhin, ihn anzulächeln.
»Siehst du dir die Landschaft an?«
Sie hatte fast Lust, ihm die Wahrheit zu sagen: Machst du dich über mich lustig? Was für eine Landschaft? Nein. Ich warte auf dich, mein Junge. Ich verbringe meine Tage mit Warten. Auch wenn ich weiß, daß du nicht kommst, bin ich da. Ich bin immer da. Weißt du, mittlerweile kann ich dein Motorrad schon von weitem hören, und ich warte, bis du deinen Helm abgesetzt hast, um ins Bett zu kriechen und dir meine Grimassensuppe zu servieren. Aber sie konnte an sich halten und begnügte sich mit einem Brummen.

Er ließ sich zu ihren Füßen nieder und lehnte sich an die Heizung.
»Alles in Ordnung?«
»Mmm.«
»Was machst du da?«
»...«
»Bist du eingeschnappt?«
»...«
Sie starrten sich eine gute Viertelstunde lang an und spielten, wer zuerst lacht, hat verloren, dann rieb er sich den Kopf, schloß die Augen, seufzte, rückte ein wenig von ihr ab, um ihr direkt gegenüberzusitzen, und hob mit monotoner Stimme an:

»Hör zu, Paulette Lestafier, hör mir gut zu:
Du hast allein in einem Haus gelebt, das du geliebt hast und ich auch. Du bist in aller Frühe aufgestanden, hast dir deinen Malzkaffee gekocht, hast ihn getrunken und dir dabei die Farbe der Wolken angeschaut, um zu wissen, wie das Wetter wird. Dann hast du deine Zöglinge gefüttert, stimmtÕs? Deine Katze, die Katzen der Nachbarn, deine Rotkehlchen, deine Meisen und alle Spatzen dieser Welt. Du hast deine Gartenschere genommen und deine Blumen versorgt, bevor du dich deiner Morgentoilette gewidmet hast. Du hast dich angezogen, auf den Briefträger oder den Metzger gewartet. Den dicken Michel, diesen Gauner, der dir immer ein Beefsteak zu 300 Gramm abgeschnitten hat, wenn du eins zu 100 Gramm verlangt hast, obwohl er genau wußte, daß du keine Zähne mehr hast. Aber du hast nichts gesagt. Du hattest zu viel Angst, daß er am nächsten Dienstag vergessen würde zu hupen. Den Rest hast du gekocht, um deiner Suppe etwas Geschmack zu geben. Gegen elf hast du deine Einkaufstasche genommen und bist zum Café des alten Grivaud gegangen, um die Zeitung und dein Brot zu kaufen. Du hast zwar schon seit langem keins mehr gegessen, hast es aber trotzdem weiterhin gekauft. Aus Gewohnheit. Und für die Vögel. Oft bist du einer alten Freundin begegnet, die schon vor dir die Todesanzeigen gelesen hatte, und ihr habt seufzend über eure Toten gesprochen. Anschließend hast du ihr die Neuigkeiten von mir erzählt. Auch wenn du keine hattest. Für diese Leute war ich schon genauso berühmt wie Bocuse, stimmtÕs? Du wohnst seit fast zwanzig Jahren allein, aber du hast immer noch eine saubere Tischdecke aufgelegt und den Tisch schön gedeckt, mit einem Glas mit Stiel und einer Vase voller Blumen. Wenn ich mich recht erinnere, waren es im Frühling Anemonen, im Sommer Astern, und im Winter hast du auf dem Markt einen Strauß gekauft und dir bei jedem Schritt gesagt, daß er ziemlich häßlich ist und du zuviel dafür bezahlt hast. Nachmittags hast du auf dem Sofa ein Mittagsschläfchen gehalten, und dein dicker Kater hat sich erbarmt, sich für einen Moment auf deinen Schoß zu legen. Anschließend hast du zu Ende gebracht, was du in den Blumenbeeten oder im Gemüsegarten am Morgen angefangen hattest. Ja, der Gemüsegarten. Du hast nicht mehr viel darin gemacht, aber immerhin, er hat noch Eßbares abgeworfen, und du hast gestrahlt, wenn Yvonne ihre Karotten im Supermarkt gekauft hat. Für dich war das der Gipfel der Schande.
Die Abende waren ein bißchen zu lang, stimmtÕs? Du hast gehofft, daß ich anrufe, aber ich habe nicht angerufen, dann hast du den Fernseher angemacht und darauf gewartet, daß dich dieser ganze Unsinn müde macht. Bei der Werbung bist du aus dem Schlaf geschreckt. Du hast deine Runde durchs Haus gedreht und dabei deinen Schal fest um dich gezogen und die Fensterläden geschlossen. Dieses Geräusch, das Geräusch von Fensterläden, die in der Dämmerung knarren, hörst du heute noch, das weiß ich, weil es mir genauso geht. Ich wohne jetzt in einer Stadt, die so anstrengend ist, daß man nichts mehr hört, aber diese Geräusche, der hölzernen Fensterläden und der Tür zum Schuppen, ich brauche nur die Ohren zu spitzen, dann höre ich sie schon...
Es stimmt, ich hab nicht angerufen, aber ich hab an dich gedacht, weißt du? Und wenn ich dich besucht hab, hab ich die Vorträge der heiligen Yvonne, die mich beiseite nahm und mir den Arm tätschelte, nicht gebraucht, um zu begreifen, daß es mit dir bergab ging. Ich hab mich nicht getraut, was zu sagen, aber ich hab natürlich gesehen, daß deine Blumenbeete nicht mehr so gepflegt waren und dein Gemüsegarten nicht mehr so ordentlich. Ich hab genau gesehen, daß du nicht mehr so schmuck warst, daß deine Haare eine ganz merkwürdige Farbe hatten und der Rock falsch rum saß. Ich hab gemerkt, daß dein Gasherd dreckig war und die potthäßlichen Pullover, die du mir weiterhin gestrickt hast, voller Löcher, daß deine Strümpfe nicht zusammenpaßten und du dich überall gestoßen hast. Ja, sieh mich nicht so an, Omi. Ich hab sie immer gesehen, deine riesigen blauen Flecken, die du unter deinen Strickwesten verbergen wolltest.
Ich hätte schon viel früher auf dich einreden können bei alledem. Dich zwingen, zum Arzt zu gehen, und mit dir schimpfen, damit du aufhörst, dich mit dem Spaten abzumühen, den du kaum noch heben konntest, ich hätte Yvonne bitten können, auf dich aufzupassen, dich zu überwachen und mir deine Untersuchungsergebnisse zu schicken. Aber nein, ich hab überlegt, daß es besser ist, dich in Ruhe zu lassen, und daß der Tag, an dem es nicht mehr geht, na ja, dann würdest du es wenigstens nicht bereuen und ich auch nicht. Du hättest wenigstens ein gutes Leben gehabt. Glücklich. Angenehm. Bis zum Schluß.

Jetzt ist er gekommen, der Tag. Da sind wir jetzt. Und du mußt dich entscheiden, meine Liebe. Anstatt böse auf mich zu sein, solltest du lieber denken, was für ein Glück du hattest, daß du mehr als achtzig Jahre in einem wunderschönen Haus wohnen durftest und...«
Sie weinte.
»... und außerdem bist du ungerecht zu mir. Ist es meine Schuld, daß ich so weit weg wohne und allein bin? Ist es meine Schuld, daß du Witwe bist? Ist es meine Schuld, daß du nicht mehr Kinder hast, die sich heute um dich kümmern können, als meine gestörte Mutter? Ist es meine Schuld, wenn ich keine Geschwister habe, die sich mit Besuchen abwechseln?
Nein, das ist nicht meine Schuld. Meine einzige Schuld ist, daß ich mir diesen beschissenen Beruf ausgesucht hab. Außer ackern wie ein Blöder kann ich nichts tun, und das Schlimme ist, weißt du, daß ich nichts anderes tun könnte, selbst, wenn ich wollte. Ich weiß nicht, ob du dir darüber im klaren bist, aber ich arbeite jeden Tag außer montags, und montags komm ich dich besuchen. Jetzt tu nicht so erstaunt. Ich hab dir doch gesagt, daß ich sonntags Extraschichten fahre, um mein Motorrad abzuzahlen. Du siehst, ich kann keinen einzigen Tag morgens ausschlafen. Ich fang jeden Morgen um halb neun an und komm abends nicht vor Mitternacht raus. Darum muß ich nachmittags schlafen, damit ich das durchhalte.
Da siehst duÕs, das ist mein Leben: nichts. Ich tu nichts. Ich seh nichts. Ich kenn nichts, und das Schlimmste ist, ich versteh auch nichts. In dem ganzen Chaos gabÕs nur ein Gutes, eins nur, die Bude, die ich bei dem seltsamen Vogel ergattert hatte, von dem ich dir schon oft erzählt hab. Dem Adligen, weißt du? Okay, und selbst das läuft kacke im Moment. Er hat ein Mädchen angeschleppt, das jetzt da ist, das bei uns wohnt und mir dermaßen auf den Keks geht, das kannst du dir nicht vorstellen. Sie ist nicht mal seine Freundin! Ob der Typ sie irgendwann mal flachlegt... eh... Pardon, ob er sie irgendwann mal rumkriegt, ich weiß es nicht. Nein, es ist einfach nur ein armes Ding, das er unter seine Fittiche genommen hat, und jetzt ist die ganze Atmosphäre in der Wohnung einfach nur verkorkst, und ich werd mir was anderes suchen müssen. Gut, aber das ist nicht so schlimm, ich bin schon so oft umgezogen, daß es auf eine Adresse mehr oder weniger nicht ankommt. Das krieg ich schon hin. Bei dir allerdings, da kann ich nichts machen, verstehst du? Zum ersten Mal hab ich einen Chef, mit dem ich gut kann. Ich erzähl dir oft, wie er brüllt und so, trotzdem, der Typ ist korrekt. Zum einen gibtÕs keinen Zoff mit ihm, zum anderen ist er super. Ich hab wirklich das Gefühl, bei ihm was dazuzulernen, verstehst du? Ich kann ihn jetzt nicht einfach im Stich lassen, jedenfalls nicht vor Ende Juli. Ich hab ihm das mit dir nämlich erzählt, weißt du? Ich hab ihm gesagt, daß ich lieber wieder hier in der Gegend arbeiten will, um näher an dir dran zu sein, und ich weiß, daß er mir helfen wird, aber bei dem Niveau, das ich heut hab, will ich nicht mehr einfach irgendwas annehmen. Wenn ich hierher zurückgeh, dann entweder als zweiter Chef in einem Feinschmeckerrestaurant oder als Chef in einem normalen Laden. Ich will hier nicht mehr den Lakai machen, ich hab schon genug eingesteckt. Du mußt jetzt also Geduld haben und aufhören, mich so anzusehen, sonst, das sag ich dir ganz offen, komm ich dich nämlich gar nicht mehr besuchen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 01.11.2005