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Schon in Ordnung.«
»Hast du Sorgen?«
»Ach Sorgen. Ich habe Kinder, die krrank sind, einen Mann, der seinen Lohn verspielt, eine Schwägerin, die mir auf den Geist geht, einen Nachbar, der in den Fahrstuhl gekackt hat, und ein Telefon, das abgeklemmt wurde, aber ansonsten ist alles in Ordnung.«
»Warum hat er das gemacht?«
»Wer?«
»Der Nachbar?«
»Keine Ahnung, aber ich hab ihm gedroht! Das kannst du mir glauben. Du lachst?«
»Was haben deine Kinder?«
»Einer hustet, der andere hat Brrechdurchfall. Gut jetzt. Reden wir nicht mehr davon, da krrieg ich zuviel Kummer, und wenn ich Kummer hab, bin ich zu nix mehr zu gebrauchen.«
»Und dein Bruder? Kann er sie nicht mit seinen Amuletten kurieren?«
»Und die Pferde? Du glaubst doch wohl nicht, daß er die Sieger rausfindet? Komm, hör mir auf mit diesem Nichtsnutz.«

Das Ferkel vom fünften Stock war anscheinend ins Mark getroffen, denn sein Büro war einigermaßen aufgeräumt. Camille zeichnete einen Engel von hinten mit zwei Flügeln, die aus dem Anzug herausragten, und einen schönen Heiligenschein.

Auch in der Wohnung fand jeder allmählich seinen Rhythmus. Die anfängliche Beklemmung, jener unsichere Reigen und die Gesten der Verlegenheit verwandelten sich allmählich in eine diskrete, routinierte Choreographie.
Camille stand am späten Vormittag auf, sorgte aber immer dafür, daß sie gegen drei in ihrem Zimmer war, wenn Franck zurückkam. Dieser verließ gegen halb sieben die Wohnung und begegnete auf der Treppe mitunter Philibert. Mit ihm trank sie Tee oder nahm ein leichtes Abendessen zu sich, bevor sie ihrerseits zur Arbeit ging und nicht vor ein Uhr nachts nach Hause kam.

Franck schlief um diese Uhrzeit nie, er hörte Musik oder sah fern. Unter seiner Tür drang der Geruch von Gras durch. Sie fragte sich, wie er diesen Wahnsinnsrhythmus durchhielt, und fand bald die Antwort: Er hielt ihn nicht durch.
Zwangsläufig krachte es irgendwann. Beim Öffnen des Kühlschranks ließ er einen Schrei los, weil die Lebensmittel nicht richtig verstaut oder falsch eingewickelt waren, und legte sie auf den Tisch, wobei er die Teekanne umwarf und die beiden mit allen möglichen Schimpfwörtern belegte:
»Wie oft muß ich euch das noch sagen? Die Butter gehört in eine Butterdose, weil sie sonst alle Gerüche annimmt! Der Käse auch! Die Frischhaltefolie ist doch nicht zum Angucken da, verdammt noch mal! Und was ist das? Ein Salatkopf? Warum laßt ihr den in der Plastikfolie? Die Plastikfolie macht alles kaputt! Das habe ich dir schon mal gesagt, Philibert! Wo sind denn die ganzen Dosen, die ich euch neulich mitgebracht hab? Okay, und das hier? Die Zitrone? Was macht die im Eierfach? Eine angeschnittene Zitrone gehört eingepackt oder verkehrt rum auf einen Teller, capito?«

Anschließend verzog er sich mit seinem Bier, und unsere beiden Verbrecher warteten das Bersten der Tür ab, bevor sie ihre Unterhaltung wieder aufnahmen:
»Und hat sie wirklich gesagt: Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Hefekuchen essen...«
»Natürlich nicht, also bitte. Niemals hätte sie einen solchen Unsinn von sich gegeben. Sie war eine sehr kluge Frau, wissen Sie?«

Natürlich hätten sie seufzend ihre Tassen abstellen und ihm entgegenhalten können, daß er sich für jemanden, der hier nie aß und das Gerät nur zum Zwischenparken seiner Sixpacks nutzte, ziemlich aufführte. Aber das war es nicht wert.
Er war nun mal ein Meckerfritze, sollte er meckern.
Sollte er meckern.
Und außerdem wartete er nur darauf. Auf die kleinste Gelegenheit, um ihnen an die Gurgel zu springen. Vor allem ihr. Er hatte sie im Visier und bedachte sie, wann immer er sie traf, mit bösen Blicken. Sie konnte noch soviel Zeit in ihrem Zimmer verbringen, manchmal streiften sie sich doch, und sie bekam einen Schwall mörderischer Schwingungen ab, die ihr je nach Laune ziemlich zusetzten oder ihr ein müdes Lächeln abrangen.
»He, was ist los? Was grinst du so? Paßt dir meine Fresse nicht?«
»Nein, nein. Nichts ist.«
Und sie beeilte sich, an etwas anderes zu denken.
In den Gemeinschaftsräumen war sie auf der Hut. Hinterließ den Ort genauso sauber, »wie Sie ihn beim Eintreten vorzufinden wünschen«, schloß sich im Badezimmer ein, wenn er nicht da war, versteckte all ihre Toilettenartikel, wischte lieber zweimal als gar nicht über den Küchentisch, leerte ihren Aschenbecher in eine Plastiktüte, die sie sorgfältig verknotete, bevor sie sie in den Mülleimer warf, versuchte, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten, machte sich so klein es eben ging, wich den Schlägen aus und fragte sich schließlich, ob sie nicht früher als vorgesehen wieder ausziehen sollte.
Sollte sie frieren, egal, sie würde mit diesem Blödmann nicht mehr aneinandergeraten, das zählte.

Philibert war betrübt:
»Aber Ca... Camille... Sie sind vi... viel zu intelligent, um sich von diesem u... ungehobelten Burschen beeindrucken zu la... lassen, wirklich... Sie... Sie stehen doch über der... derlei Dingen.«
»Eben nicht. Ich befinde mich auf exakt demselben Niveau. Deshalb kriege ich es mitten ins Gesicht.«
»Nein, nein! Überhaupt nicht! Sie beide kann man doch nicht in einem Atemzug nennen! Ha... haben Sie schon einmal seine Schrift gesehen? Haben Sie ihn schon einmal lachen hören, wenn er die plumpen Witze die... dieses minderbemittelten Fernsehunterhalters hört? Haben Sie ihn schon einmal etwas anderes lesen sehen als die Preisliste für gebrauchte Motorräder? Wa... warten Sie, der Junge ist doch auf dem geistigen Stand eines Zweijährigen! Er kann nichts dafür, der A... Arme. I... ich stelle mir vor, daß er als kleines Kind in eine Küche gekommen ist und seitdem nie wieder heraus. Kommen Sie, betrachten Sie die Dinge mit etwas A... Abstand. Seien Sie nachsichtiger, Ýco... coolerÜ, wie Sie sagen würden.«
»...«
»Wissen Sie, was meine Mutter zu mir gesagt hat, als ich es wagte, ihr gegenüber... widerstrebend auch nur ein Viertel der Hälfte der schrecklichen Dinge anzudeuten, die meine Stubenkameraden mir a... angetan haben?«
»Nein.«
»ÝSie müssen lernen, mein Sohn, daß der Speichel der Kröte die weiße Taube nicht erreicht.Ü Das hat sie zu mir gesagt.«
»Und hat Sie das getröstet?«
»Überhaupt nicht! Im Gegenteil!«
»Sehen Sie...«
»Ja, aber bei Ihnen ist es nicht das g... gleiche. Sie sind nicht mehr zwölf.«

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 29.10.2005