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Sie ging auf die Küche zu und sah zu ihrer Verärgerung, daß dort Licht brannte. Bestimmt Monsieur Marquet de la Durbellière, Ritter der traurigen Gestalt, eine heiße Kartoffel im Mund und eine Batterie an Scheinargumenten, um sie zurückzuhalten. Einen kurzen Moment erwog sie, umzukehren. Sie hatte nicht die Kraft, sein Gefasel zu ertragen. Andererseits, wollte sie die Nacht überleben, brauchte sie ihren Heizkörper.


9. Kapitel
Er saß am anderen Tischende und spielte mit dem Deckel seiner Bierflasche.
Camille umschloß fest den Türgriff und spürte, wie ihr die Fingernägel ins Fleisch schnitten.
»Ich habe auf dich gewartet«, sagte er.
»Ja?«
»Ja.«
»...«
»Willst du dich nicht setzen?«
»Nein.«
Einige Zeit verharrten sie so, schweigend.
»Du hast nicht zufällig den Schlüssel zur Hintertür gesehen?«, fragte sie schließlich.
»In meiner Tasche.«
Sie seufzte.
»Gib ihn mir.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil ich nicht will, daß du gehst. Ich verschwinde. Wenn du nicht mehr da bist, ist mir Philibert bis ans Ende seiner Tage böse. Vorhin schon, als er den Karton sah, hat er mir die Hölle heiß gemacht, er ist seitdem nicht mehr aus seinem Zimmer gekommen. Deshalb ziehe ich aus. Nicht deinetwegen, sondern seinetwegen. Das kann ich ihm nicht antun. Er wird wieder so werden wie vorher, und das will ich nicht. Das hat er nicht verdient. Er hat mir geholfen, als ich in der Scheiße steckte, und ich will ihm nicht weh tun. Ich will nicht mehr sehen, wie er jedesmal leidet und sich wie eine Schlange windet, wenn ihm jemand eine Frage stellt, das geht nicht. Es ging schon besser mit ihm, bevor du kamst, aber seit du da bist, ist er fast normal, und ich weiß, daß er jetzt weniger Pillen nimmt. Du brauchst nicht zu gehen. Ich hab einen Kumpel, bei dem ich nach den Feiertagen unterschlüpfen kann.«
Stille.

»Kann ich ein Bier von dir haben?«
»Nur zu.«
Camille schenkte sich ein Glas ein und setzte sich ihm gegenüber.
»Darf ich eine rauchen?«
»Nur zu, sag ich doch. Tu so, als sei ich nicht da.«
»Nein, das kann ich nicht. Das ist unmöglich. Wenn du in einem Raum bist, ist eine solche Spannung in der Luft, so viel Aggressivität, daß ich mich nicht natürlich verhalten kann und...«
»Was und?«
»Und mir geht's wie dir, stell dir vor, ich bin müde. Nicht aus den gleichen Gründen, wie ich mir denken kann... ich arbeite weniger, aber sonst ist es das gleiche. Es ist was anderes, aber das gleiche. Mein Kopf ist müde, verstehst du? Außerdem will ich hier weg. Ich merke deutlich, daß ich nicht länger in einer Wohngemeinschaft leben kann, und ich...«
»Ja?«
»Nein, nichts. Ich bin müde, sage ich doch. Und du bist unfähig, dich anderen gegenüber normal zu verhalten. Immer mußt du brüllen, die anderen angreifen. Ich denke mir, das hängt mit deiner Arbeit zusammen, der Atmosphäre in der Küche, die abfärbt. Keine Ahnung. Und außerdem ist es mir ehrlich gesagt so was von egal. Aber eins ist sicher: Ich gebe euch eure Zweisamkeit zurück.«
»Nein, ich werd gehen, ich hab keine Wahl, sag ich doch. Für Philou zählst du mehr, du bist wichtiger geworden als ich.«
»C'est la vie«, fügte er lachend hinzu.
Und zum ersten Mal sahen sie sich in die Augen.

»Ich hab ihn besser bekocht als du, so viel ist sicher! Aber ich hab nun mal nichts am Hut mit den weißen Haaren der Marie-Antoinette. Das geht mir am Arsch vorbei, und deshalb hab ich verloren. Ach, übrigens! Danke für die Anlage.«
Camille war aufgestanden:
»Es ist doch in etwa die gleiche, oder?«
»Bestimmt.«
»Prima«, folgerte sie freudlos. »Okay, und der Schlüssel?«
»Welcher Schlüssel?«
»Komm schon.«
»Deine Sachen sind wieder in deinem Zimmer, und ich hab dein Bett bezogen.«
»Du hast mein Bett bezogen? Hoffentlich nicht mein Zimmer.«
»Mann, du bist wirklich ätzend.«

Sie wollte gerade gehen, als er mit dem Kinn auf ihr Skizzenheft deutete:
»Hast du das gemacht?«
»Wo hast du das gefunden?«
»He... Ganz ruhig. Es lag hier auf dem Tisch. Ich hab nur reingeschaut, während ich auf dich gewartet hab.«
Sie wollte es sofort wieder an sich nehmen, als er hinzufügte:
»Wenn ich dir was Nettes sage, beißt du mich dann?«
»Probier's halt mal.«
Er nahm es hoch, blätterte ein paar Seiten um, legte es wieder hin und wartete noch einen Moment, bis sie sich endlich umdrehte:
»Das ist toll, weißt du? Superklasse. Supergut gezeichnet. Das ist... Na ja, wenn ich das sage. Ich kenn mich ja nicht sonderlich gut aus. Überhaupt nicht, eigentlich. Aber ich wart seit fast zwei Stunden auf dich, in dieser Küche, wo man sich einen abfriert, und die Zeit ist nur so verflogen. Ich hab mich nicht eine Minute gelangweilt. Ich... Ich hab mir hier die ganzen Gesichter angeschaut. Meinen Philou und seine Leute. Wie gut du sie getroffen hast, wie schön du sie gemacht hast. Und die Wohnung. Ich wohn seit über einem Jahr hier und hatte gedacht, sie wäre leer, das heißt, ich hab nichts mitgekriegt. Und du... Tja, das ist echt Wahnsinn.«
»...«
»He, warum heulst du jetzt?«
»Die Nerven, glaube ich.«
»Na, so was. Willst du noch ein Bier?«
»Nein, danke. Ich gehe jetzt schlafen.«

Als sie im Badezimmer war, hörte sie, wie er an Philiberts Zimmertür hämmerte und brüllte:
»Okay, Kumpel! Alles in Ordnung. Sie ist nicht ausgeflogen! Du kannst jetzt auf die Toilette gehen.«

Als sie das Licht ausmachte, glaubte sie zu erkennen, wie ihr der Marquis zwischen seinen Barthaaren zulächelte. Sie schlief sofort ein.

10. Kapitel
Es war milder geworden. Es lag etwas von Freude, von Leichtigkeit in der Luft, samsing in si air. Alle waren unterwegs, um Geschenke zu kaufen, und Josy B. hatte ihre Haare frisch gefärbt. Ein wunderschöner rotbrauner Schimmer, der ihr Brillengestell richtig zur Geltung brachte. Auch Mamadou hatte sich ein wunderbares, künstliches Haarteil gekauft. Eines Abends, als sie zu viert zwischen zwei Stockwerken eine Flasche Sekt köpften, die sie vom Wettgewinn gekauft hatten, hielt sie ihnen einen Vortrag über Haartrachten.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 05.11.2005