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»Politikverdrossenheit hat auch etwas mit dem Handeln von Politikern wie Stoiber zu tun.«

Leitartikel
Koalitionsverhandlungen

Proporz bringt
uns nicht
auf die Beine


Von Dirk Schröder
74 Prozent der Bürger sind der Ansicht, den Politikern von Union und SPD gehe es bei den Verhandlungen über eine große Koalition vor allem um persönliches Fortkommen. Nur 20 Prozent waren der Auffassung, das Wohl des Landes stehe im Mittelpunkt der Gespräche. Über dieses Ergebnis einer Umfrage sollten sich die Politiker nicht wundern, sie haben es sich selbst zuzuschreiben.
Was musste das Wahlvolk in den letzten Tagen nicht alles über sich ergehen lassen! Da ist der Wechsel der niedersächsischen Sozialministerin Ursula von der Leyen so gut wie sicher, prompt wird sie in ihrem Landesverband in Frage gestellt, der Niedersachse Friedbert Pflüger könnte stattdessen doch Verteidigungsminister werden. Da wird von der CSU das Innenressort reklamiert, andere Stimmen meinen, es könnte vielleicht ja auch das Familienministerium sein. All denen sei einmal ausdrücklich hinter den Spiegel geschrieben: In so schwierigen Zeiten gehören in Deutschland die besten Köpfe an die Spitze, für billiges Proporzdenken ist da kein Platz.
In der SPD sah es bisher nicht anders aus. Da musste sich SPD-Chef Franz Müntefering heftig dafür verteidigen, liebgewonnene Ministerium abgeben zu haben. Natürlich schmerzt nach sieben Jahren Regierungszeit jedes Zugeständnis. Doch bei dem Wahlergebnis mussten die Sozialdemokraten Kompromisse machen, können aber dennoch mit dem bisher Erreichten zufrieden sein.
Müntefering hat zudem auch das Richtige gemacht und mit der Festlegung der Minister dafür gesorgt, dass die am Montag beginnenden Koalitionsverhandlungen nicht von einer Personaldiskussion gestört werden.
Erst das Inhaltliche, dann die Personen, dies war noch bis gestern die Devise der Union. Nun aber hat sich die künftige Kanzlerin doch besonnen und will am Montag noch vor dem Beginn der Gespräche die Minister von CDU und CSU präsentieren.
Hoffentlich ohne weitere Querschüsse aus Bayern. Denn das Maß ist mittlerweile mehr als voll. Es wäre nicht das erste Mal, dass Edmund Stoiber über Angela Merkel sagt, »sie wird eine gute Kanzlerin und wird mich eng an ihrer Seite haben«, um dann wieder in jene alten Ränkespiele zurückzufallen, die die Union bei dieser Wahl viele Stimmen gekostet haben - auch wenn dies der »König aus Bayern« natürlich anders sieht. Aber nicht nur das, die zunehmende Politikverdrossenheit hat auch etwas mit dem Handeln von Politikern wie Stoiber zu tun.
Doch zurück zur SPD. Die Zukunft wird zeigen, wie groß das Vakuum nach Schröders Abgang ist. Auf jeden Fall so groß, dass Müntefering selbst in die Regierung wechselt, was er ursprünglich nie wollte. Er war es, der die zerrissene SPD-Fraktion immer wieder auf Kurs gebracht hat. Nun soll Peter Struck die Truppe zusammenhalten. Das ist von allen Personalentscheidungen noch die beste. Peter Struck hat bewiesen, dass er es kann.

Artikel vom 14.10.2005