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Was geschieht, wenn Allah eines Tages seine schützende Hand von Musharraf wegziehen wird?

Leitartikel
Musharrafs Herrschaft labil

Vorsicht vor Nachbeben in Pakistan


Von Bernhard Hertlein
Es wird lange dauern, bis die letzten der 30 000 Toten in Kaschmir begraben sind. Noch länger werden die Trauer dauern und die Behandlung der Verwundungen, der Wiederaufbau der zerstörten Häuser, Straßen und Moscheen. Nachbeben können die Leidenszeit verlängern. Natürliche Nachbeben und die zu erwartenden politischen.
Große Katastrophen haben gerade in Südasien in der Vergangenheit wiederholt politische Karrieren beendet. Wen wird es diesmal in Pakistan treffen? Den Ministerpräsidenten Shaukat Aziz? Oder gar Staatspräsident Pervez Musharraf?
Proteste hagelte es schon beim Eintreffen der ersten Räummaschinen und anschließenden Hilfstransporte. Bürokraten, die trotz der Verheerungen keine ihrer Vorschriften vergessen konnten, hatten offenbar wieder mal das bei einer solchen Katastrophe »normale«ÊChaos verstärkt. Die Bevölkerung verschaffte ihrem Unmut mit spontanen Demonstrationen Luft. Der Ärger wird sich steigern, sobald die ersten Fälle von Korruption im Zusammenhang mit dem Erdbeben ruchbar werden.
In Sri Lanka vergaßen die Singhalesen und Tamilen nach dem Tsunami mindestens zeitweise ihre Feindschaft. In der indonesischen Provinz Aceh hat die gleiche Katastrophe sogar einen 30 Jahre alten Bürgerkrieg beendet.
In Kaschmir aber dauerte es Tage, ehe die Regierung in Islamabad die angebotene indische Hilfe wenigstens teilweise akzeptierte. Der Grund war angeblich die Angst vor Spionen. Wenn dies stimmt, mussten deshalb Menschen sterben. In der frühen Phase war die Hilfe des Nachbarn nicht zu ersetzen. Die Großmacht Indien ist auf Katastrophen weitaus besser vorbereitet als Pakistan, das sein knappes Geld lieber in Atom-Programme und andere militärische Abenteuer investiert.
Dabei hatte es gerade in Kaschmir in letzter Zeit Zeichen der Entspannung gegeben. Nicht nur wurde ein Waffenstillstand vereinbart. Nach Jahrzehnten strikter Abschottung durften sogar Busse in beiden Richtungen die Grenze passieren. Das Erdbeben hat gezeigt, wie brüchig die Annäherung noch ist.
In Delhi war man aber auch vorher schon vorsichtiger in der Einschätzung Islamabads. Mögen der Westen und vor allem die USA Pakistan gern als Vorposten gegen den islamistischen Terror feiern und mit Milliarden Dollar seine Wirtschaft ankurbeln. Aus der Nähe sieht man genauer, wie brüchig die Front ist.
Im Grunde hängt sie fast ausschließlich an Musharraf. Trotz dreier Attentatsversuche auf seine Person ist er stark genug, die Islamisten mit Hilfe des Militärs einigermaßen in Schach zu halten. Dies gilt allerdings schon jetzt nicht für alle Regionen Pakistans, wie man außer in Indien noch in Afghanistan weiß.
Die schwierigste Frage ist: Was geschieht, wenn Allah eines Tages seine schützende Hand von Musharraf wegzieht? Mit großer Wahrscheinlichkeit steht den Islamisten dann das Tor zur Macht offen - und zur Atombombe.

Artikel vom 17.10.2005