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Die dramatische Lage
erlaubt keinen Stillstand

Reformkonzepte liegen bereits in den Schubladen

Von Günther Voss und André Stahl
Berlin (dpa). Es soll eine »Koalition der neuen Möglichkeiten« werden, kündigte Angela Merkel nach dreiwöchigem Geschacher um Kanzlerschaft und Ressortverteilung optimistisch an. Für inhaltliche Fragen blieb bei den Sondierungsgesprächen der Spitzen von SPD und Union bisher aber noch wenig Platz.

Lediglich vier Punkte wurden für die eigentlichen Koalitionsverhandlungen grob festgelegt: Mehr Ausgaben in Forschung und Entwicklung, Erhalt der Tarifautonomie, Steuervereinfachung und Förderung der Familie. Offen blieben dagegen die zentralen Fragen, wie Staatsfinanzen und Sozialsysteme saniert werden.
Mit der Einigung auf die vier Fix-Punkte sind wenige, aber wichtige Weichenstellungen erfolgt: Die Festlegung auf den Erhalt der Tarifautonomie zeigt, dass die Union wichtige Ziele aus ihrem Wahlprogramm - wie ein Gesetz für betriebliche Bündnisse - als Preis für die Kanzlerschaft Angela Merkels geopfert hat.
Auf das Haben-Konto der SPD geht auch, dass die Union von ihrem Vorhaben abrückte, Nacht-, Sonn- und Feiertagszuschläge zu besteuern.
Schon ist die Rede von »Sozialdemokratisierung« der künftigen Regierung, obwohl die SPD nicht den Kanzler stellt. Allerdings: die Koalitionsverhandlungen müssen erst noch geführt werden, Ergebnisse gibt es noch nicht. Unklar ist etwa, was aus der von CDU und CSU geforderten Erhöhung der Mehrwertsteuer wird. Auch die SPD ist an einer Senkung der Sozialabgaben interessiert und steht dem Plan nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber.
Schon Punkt 1 der »ersten inhaltlichen Vereinbarungen« von Union und SPD kostet zunächst einmal Geld, und zwar viele Milliarden. Vom Jahr 2010 an wollen die künftigen Koalitionäre die Ausgaben für Forschung und Bildung auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöhen. Derzeit sind es 2,5 Prozent, die Staat und Wirtschaft dafür aufwenden.
Kein Wort verloren die Unterhändler bisher zum Reformbedarf bei Gesundheit und Pflege. Für den Umbau der Krankenkassenfinanzierung stehen noch ganz konträre Konzepte gegeneinander: Da CSU-Chef Edmund Stoiber von der Kopfpauschale in Reinform schon abgerückt ist, steht die schwierige Suche nach einem »dritten Weg« an: Ein Kompromiss müsste die vom Einkommen unabhängige Unions-Kopfpauschale mit der SPD-Bürgerversicherung miteinander verzahnen.
Um die Lebensbedingungen für Familien zu verbessern, soll in den Koalitionsverhandlungen sowohl über das Unions-Konzept eines höheren steuerlichen Grundfreibetrages für Eltern und Kinder als auch über die SPD-Vorstellungen zu einem neuen »Elterngeld« gesprochen werden.
Schon gibt es Warnungen, dass eine »Koalition der Kompromisse« allenfalls zu einer Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners fähig sei und die neuen Regierungspartner schon jetzt auf die nächsten Wahlen 2009 schielen - sich also behindern statt fördern - und dass Deutschland wieder im Reformstau versinkt.
Gegen die Befürchtungen vom Reform-Stillstand spricht, dass die dramatische Lage aller öffentlichen Haushalte und drohende Milliarden-Strafzahlungen an Brüssel keine Alternativen zulassen zum Subventionsabbau und zu radikalen Einschnitten. Zudem liegen erste Reformkonzepte bereits in den Schubladen: Für eine erste Stufe der Föderalismusreform etwa, eine Reform des Steuerrechts und für einen weiteren Bürokratieabbau.

Artikel vom 12.10.2005