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»Kaschmir ist zum Friedhof geworden«

Unwetter und Kälteeinbruch stoppen die Rettungsflüge - viele ohne Nahrung und Medizin

Von Can Merey und Imtiaz Gul
Islamabad/Muzaffarabad/Neu Dehli (dpa). Etliche der Überlebenden in Pakistan haben bei dem Erdbeben alles verloren. Nun wirkt es fast, als wolle eine grausame Macht sie nochmal bestrafen.

Nach leidvollen Tagen und drei kalten Nächten, die viele in Zelten oder ganz im Freien verbrachten, begannen gestern Regen und Hagel auf sie einzuprasseln. Die Unwetter machen die dringend benötigten Hubschrauberflüge in die Katastrophenregion unmöglich. Es könnte noch schlimmer kommen: Meteorologen sagen weiteren Regen voraus - und prognostizieren, dass bald eine Kältewelle über die Millionen Schutzlosen hereinbricht. Schon jetzt ist das Leid kaum fassbar. Im Katastrophengebiet mit vermutlich 42 000 Toten, mehr als 50 000 Verletzten und möglicherweise fünf Millionen Obdachlosen beginnt der Wettlauf gegen die Zeit.
Muzaffarabad im Norden Pakistans gleicht einer Geisterstadt. Die Hauptstadt des pakistanischen Teils Kaschmirs sieht aus, als wäre sie dem Erdboden gleich gemacht worden. Über der Trümmerwüste liegt Verwesungsgeruch, Leichen liegen im Freien. Seit den Erdstößen gibt es in Muzaffarabad weder Strom noch Wasser. Der Regierungschef der Region, Sikandar Hayat Khan, arbeitet seit dem Beben am Samstag von einem Zelt aus. »Kaschmir ist zu einem Friedhof geworden«, sagt er.
Mehr als jeder vierte der geschätzten 40 000 Erdbebenopfer in Pakistan wird in Muzaffarabad betrauert. In der Stadt mit ihren einst etwa 200 000 Einwohnern sind nach bisherigen Erkenntnissen 12 000 Menschen gestorben. Tausende Tote werden noch unter den Trümmern vermutet. Verzweifelte Menschen, viele von ihnen geschwächt durch den Ramadan, die muslimische Fastenzeit, suchen immer noch mit den Händen nach verschütteten Freunden und Verwandten. Die Chancen, Überlebende zu bergen, sinken indes immer weiter.
Allerdings konnten die Rettungskräfte abermals spektakuläre Erfolge vermelden: In Islamabad bargen Helfer gestern, fast 80 Stunden nach dem Hauptbeben der Stärke 7,7, zwei Frauen aus den Trümmern eines zehnstöckigen Komplexes. Die Umstehenden brachen in Applaus aus, schöpften neue Hoffnung, dass auch ihre Nächsten noch aus dem Geröllberg geborgen werden könnten. Eine trügerische Hoffnung.
Stattdessen gelingt es in vielen Fällen noch nicht einmal, zu den sterblichen Überresten vorzudringen. »Ich habe die Leiche meiner Ehefrau gefunden«, sagt Muhammad Jalil aus Muzaffarabad, während ihm Tränen über die Wangen rollen. »Aber die meiner drei Kinder liegen noch unter dem Schutt.« Denjenigen, die die Leichen ihrer Angehörigen bergen können, bleibt oft keine andere Wahl, als sie in Massengräbern zu bestatten.
Viele Überlebende sind damit beschäftigt, ihr eigenes Leben zu erhalten. Trotz der Zusicherung der Regierung, Hilfe zu liefern, gibt es in vielen Dörfern in der Region Muzaffarabad kein Essen. Augenzeugen berichten von wütenden Menschen, die Hilfslieferungen plündern.
Armeesprecher Shaukat Sultan betont, Hilfsgüter seien tonnenweise in die betroffenen Gegenden gebracht worden. »Aber dies ist eine Katastrophe enormen Ausmaßes«, sagt der Generalmajor. »Wir haben Tausende erreicht. Realität ist aber auch, dass wir Tausende in entlegenen Gegenden noch nicht erreicht haben.«
Die Vereinten Nationen bitten inzwischen um 226 Millionen Euro Soforthilfe für die Erdbebenopfer in Südasien - und sie mahnen zur Eile. Schon in drei Wochen, so mahnt die UN, beginnt in der Katastrophenregion am Rande des Himalaya der Winter.
Angesichts des Elends ausgerechnet in Kaschmir, dem Gebiet, an dem sich immer wieder die Feindschaft in Kämpfen entlud, rücken die Erzrivalen Indien und Pakistan nun immerhin enger zusammen. Zum ersten Mal seit Menschengedenken bringt Indien einen Hilfstransport in den weitaus stärker betroffenen pakistanischen Teil auf den Weg.

Artikel vom 12.10.2005