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Experiment geglückt: Merkel
auf dem Weg ins Kanzleramt

Weiblich, geschieden, ostdeutsch: Mit Beharrlichkeit und Mut ans Ziel

Von Ulrich Scharlack
Berlin (dpa). Angela Merkel ist fast am Ziel. Fünf Jahre nachdem die heute 51-Jährige als erste Frau zur CDU-Vorsitzenden gewählt worden war, hat sie nach der grundsätzlichen Einigung von Union und SPD beste Aussichten, in einigen Wochen als erste Frau Deutschland führen zu können.
Alles hört auf ihr Kommando: Angela Merkel hat den Höhepunkt ihrer politischen Karriere erreicht. Union und SPD haben sich darauf geeinigt, dass sie als Bundeskanzlerin die große Koalition führt. Fotos: dpa

Weiblich, ostdeutsch und auch noch Späteinsteigerin in die Politik: Merkel würde mit der Kanzlerschaft die wohl ungewöhnlichste politische Karriere in der jüngeren deutschen Geschichte krönen - auch wenn sie die Union nicht in das Wunschbündnis mit der FDP, sondern nur in eine große Koalition geführt hat.
Das Experiment, das die CDU mit der Physikerin im Jahr 2000 mitten in ihrer schwersten Krise begann, ist für die Christdemokraten damit zum Teil geglückt. Merkel hat die Kanzlerpartei Konrad Adenauers und Helmut Kohls zurück zur Macht geführt. »Ich will Deutschland dienen« - Merkel hat im Wahlkampf versucht, diesen Satz zu ihrem Markenzeichen zu machen. Nun kann sie ihn wohl umsetzen, wenn auch unter schwierigen Umständen. Sie spricht von einer »Koalition der Möglichkeiten«.
Nach der Niederlage der SPD in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai und der Ankündigung der Vertrauensfrage durch Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) schien der strahlenden Merkel die Macht fast von selbst in den Schoss zu fallen. Die Kanzlerkandidatur, die sie vor drei Jahren noch CSU-Chef Edmund Stoiber überlassen musste, lief diesmal wie von selbst auf sie zu. Doch die Wahl war am Ende alles andere als ein Plebiszit für Merkel.
Von vielen Medien und professionellen Beobachtern erhielt sie gute Noten für ihren Wahlkampf. Als Fehlentscheidung wird im Nachhinein in der Partei aber ihre Entscheidung gewertet, den Verfassungsrichter Paul Kirchhof zum Finanzexperten im Wahlteam zu machen. Er verunsicherte viele Unionswähler mit Thesen über seine radikale Steuerreform. Und: Am Ende blieb Schröder doch populärer als sie.
Nach dem für die Union unbefriedigenden Resultat mit massiven Verlusten in Richtung FDP und »Nichtwähler« musste Merkel alles auf eine Karte setzen. Schon zwei Tage nach der Wahl setzte sie die Abstimmung über den Fraktionsvorsitz an. Mit dem Rekordresultat von 98,6 Prozent wurde sie bestätigt - auch eine Reaktion auf Schröder, der vor den Augen der erstaunten Nation für sich das Kanzleramt reklamiert hatte. Das wollte sich die Union nicht bieten lassen, und so hielten alle zu Merkel.
Die erste zu sein - diese Erfahrung hat die Pfarrerstochter aus Templin in Brandenburg mehrmals gemacht. Erst mit 35 Jahren kam die Physikerin in die Politik - zunächst als »Mädchen für alles« im Demokratischen Aufbruch während der Wende in der DDR. Sie wurde nach ein paar Monaten stellvertretende Regierungssprecherin. Mit 36 wurde sie Ministerin, das »Küken« in Helmut Kohls Kabinett. Nicht jeder der Kabinettskollegen nahm sie anfangs richtig ernst.
Als die CDU in die Opposition musste, wurde sie 1998 mit 44 Jahren Generalsekretärin, als erste Frau, als erste aus dem Osten. Während der Spendenkrise scharte sich die Partei um sie, weil sie als erste in der Führung die Abnabelung von Kohl verlangte und anders als der damalige Parteichef Wolfgang Schäuble unbelastet war.
Schon ihre Wahl zur Vorsitzenden im Jahr 2000 grenzte an ein politisches Wunder. Merkel, die in zweiter Ehe verheiratet und kinderlos ist, Protestantin noch dazu, passte nie zum Bild der »alten« CDU, dieser männer- und westdominierten Partei mit katholischen und konservativen Wurzeln. Und schon gar nicht entsprach sie den Erwartungen der »bayerischen Schwester« CSU. Merkel, die Außenseiterin, musste sich durchsetzen. Sie hat nicht schon als Jugendliche das Kungeln gelernt. Alles, was zum politischen Handwerk gehört, hat sie sich im Schnellkurs aneignen müssen. Als Nachteil empfand sie, über keine Hausmacht zu verfügen.
Ob ihr die Ministerpräsidenten in Zukunft immer folgen werden, ist eine offene Frage. Schon im Wahlkampf zeigten sie mit Zwischenrufen, dass sie ihre Macht im Zweifel auch einmal gegen die Kanzlerin einer ungeliebten großen Koalition ausspielen könnten.
Wie wird Merkel Deutschland führen? »Ich bin ein Mensch, der zutiefst überzeugt ist, dass menschliches Leben evolutionär geht, das heißt, dass wir uns immer verändern und verändern müssen. Ich finde Veränderungen nichts Schreckliches«, sagte die Naturwissenschaftlerin kürzlich. Sie wollte einen harten Reformkurs fahren. Der Erkenntnis, dass Deutschland in vielen Feldern das Schlusslicht ist, sollte die konsequente Therapie folgen. Nun muss sie einen Mittelweg finden.

Artikel vom 11.10.2005