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Horst Seehofer,
CSU-Gesundheitsexperte

»Wer Angela Merkel unterschätzt, hat schon verloren.«

Leitartikel
Angela Merkel

Das Mädchen
ist ganz oben
angekommen


Von Ulrich Windolph
»Das Mädchen« ist am Ziel. Angela Merkel wird erste Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. Lange ist sie belächelt worden - gestern lächelte sie, zumindest für einen Moment.
Sicher, die Union hatte bei der Bundestagswahl 450 000 Stimmen mehr als die SPD erhalten - so gesehen stand und steht ihrer Spitzenkandidatin selbstverständlich auch das politisch wichtigste Amt im Staate zu. Man muss sich aber nur die von den Sozialdemokraten und vor allem von Gerhard Schröder noch am Abend des 18. September initiierten Scharmützel in Erinnerung rufen, um zu wissen, dass Merkels Weg in den vergangenen drei Wochen alles andere als leicht war.
In seiner unnachahmlichen Art und Weise hatte Schröder die Niederlage in einen Sieg umzudeuten versucht. Das Wahlvolk rieb sich verwundert die Augen, urplötzlich sollte der stärksten Partei und nicht der stärksten Fraktion der Führungsanspruch im Bundestag zustehen. Schröder inszenierte sich als »Kanzler der Herzen«.
Aber Angela Merkel konterte. Mit sagenhaften 98,6 Prozent der Stimmen ließ sich die Frau aus der Uckermark im Amt der Fraktionsvorsitzenden bestätigen und setzte damit gleich am ersten Tag nach der Wahl ein Ausrufezeichen. Sie zwang ihre Fraktion zur Loyalität und nutzte die Tatsache, dass den Unionsabgeordneten in der Kürze der Zeit kaum eine Alternative blieb. Ein schlechtes Ergebnis hätte nicht nur Merkel, sondern auch die Union zerlegt.
So machten viele ihr Kreuzchen für Merkel mit der Faust in der Tasche, aber sie machten es. Mochte der Frust über die Fehler im Wahlkampf, über die vermeintlich falsche Strategie und das vermeintlich falsche Personal, über den verpassten Wechsel noch so groß sein, Merkel hatte die Reihen fürs Erste geschlossen. Daran konnte auch ihr aus der Hecke schießende Dauerrivale Friedrich Merz nichts ändern.
Dieses Votum war Grundlage für ihren persönlichen Erfolg in den Sondierungsgesprächen. Erst wenn der Trubel dieser Tage gewichen ist, wird man merken, was CDU-Chefin Angela Merkel dabei noch erreicht hat:
- Sie hat dem politischen Gegner den Siegertypen genommen. Schon bald wird die Frage Raum greifen, wie eine SPD nach Gerhard Schröder aussehen soll. Wer soll, vor allem aber wer kann der neue Star der Sozialdemokratie werden?
- Sie kann die SPD in die Mitverantwortung zwingen und wird sie so vor eine Zerreißprobe stellen. Wo wollen die Genossen hin? Geht es weiter in Richtung Agenda 2010 oder zurück zur alten Sozialstaatspolitik?
Mit Angela Merkel wird ein neuer Stil ins Kanzleramt einziehen. Sie ist, anders als Gerhard Schröder, kein Instinktpolitiker. Ihr Machtinstinkt steht dem seinen aber in nichts nach. »Wer Angela Merkel unterschätzt, hat schon verloren«, hat CSU-Gesundheitsexperte Horst Seehofer einmal gesagt. Wer bis jetzt nicht wusste, was das heißen sollte, weiß es jetzt. Egal, ob er Christ- oder Sozialdemokrat ist.

Artikel vom 11.10.2005