21.10.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Er mußte etwas tun. Er konnte sie nicht allein lassen. Ja, aber seine Erziehung, seine guten Manieren, nicht zuletzt seine Diskretion verwickelten ihn in endlose Debatten.
War es schicklich, eine junge Frau mitten in der Nacht zu stören? Wie würde sie reagieren? Und außerdem, vielleicht war sie gar nicht allein, wer weiß? Und wenn sie nackt war? Oh, nein. Daran wollte er lieber nicht denken. Und wie bei Tim und Struppi stritten sich Engel und Teufel auf dem Kopfkissen nebenan.
Das heißt, die Personen waren nicht ganz dieselben.
Ein durchgefrorener Engel sagte: »Aber sie stirbt den Erfrierungstod, die Kleine«, der andere, mit eingefalteten Flügeln, gab zurück: »Ich weiß, mein Lieber, aber das tut man nicht. Sie erkundigen sich morgen früh nach ihrem Befinden. Schlafen Sie jetzt, ich bitte Sie.«
Er wohnte ihrem Streit bei, ohne sich daran zu beteiligen, drehte sich zehnmal um, zwanzigmal, bat um Ruhe und raubte ihnen am Ende das Kopfkissen, um sie nicht mehr hören zu müssen.
Um drei Uhr vierundfünfzig suchte er im Dunkeln nach seinen Socken.

Der Lichtstrahl unter ihrer Tür machte ihm Mut.
»Mademoiselle Camille?«
Dann, nur wenig lauter:
»Camille? Camille? Ich binÕs, Philibert.«
Keine Antwort. Er versuchte es ein letztes Mal, bevor er kehrtmachte. Als er schon am Ende des Flurs angelangt war, hörte er einen gedämpften Laut.
»Camille, sind Sie da? Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht und ich... Ich...«
»... Tür... offen...« stöhnte sie.

Die Dachkammer war eiskalt. Er kam kaum durch die Tür, wegen der Matratze, und stolperte über einen Haufen Tücher. Er kniete sich hin. Hob eine Decke hoch, dann eine zweite, dann eine Steppdecke und stieß schließlich auf ihr Gesicht. Sie war triefnaß.
Er legte ihr die Hand auf die Stirn:
»Sie glühen ja wie vor Fieber! So können Sie nicht bleiben. Nicht hier. Nicht ganz allein. Und Ihr Kamin?«
»... keine Kraft, ihn zu verrücken...«
»Erlauben Sie, daß ich Sie mit zu mir nehme?«
»Wohin?«
»Zu mir.«
»Will mich nicht bewegen.«
»Ich werde Sie tragen.«
»Wie ein Märchenprinz?«
Er lächelte sie an:
»Oje, oje, Sie befinden sich ja schon im Fieberwahn.«
Er schob die Matratze mitten ins Zimmer, zog ihr die schweren Schuhe aus und hob sie so behutsam wie möglich hoch.
»Leider bin ich nicht so stark wie ein richtiger Prinz... Hm... Könnten Sie vielleicht versuchen, Ihren Arm um meinen Hals zu legen?«
Sie ließ den Kopf auf seine Schulter fallen, und der säuerliche Geruch, der von ihrem Nacken aufstieg, verwirrte ihn.


Die Entführung verlief katastrophal. Er stieß mit seiner Schönen an den Ecken an und fiel bei jeder Stufe fast hin. Zum Glück hatte er daran gedacht, den Schlüssel zum Hintereingang mitzunehmen, und brauchte nur drei Stockwerke zu bewältigen. Er durchquerte das Mägdezimmer, die Küche, ließ sie im Flur fast zehnmal fallen und legte sie schließlich auf das Bett seiner Tante Edmée.
»Hören Sie, ich muß Sie ein wenig entblößen, fürchte ich. Ich... Na ja, Sie... Na ja, eine ziemlich mißliche Lage, oder?«
Sie hatte die Augen geschlossen.

Gut.
Philibert Marquet de La Durbellière befand sich jetzt in einer äußerst prekären Situation.
Er dachte an die Großtaten seiner Vorfahren, aber der Nationalkonvent von 1793, die Einnahme von Cholet, Cathelineaus Mut und La Rochejaqueleins Tapferkeit kamen ihm mit einem Mal ganz nichtig vor.

Der erzürnte Engel saß jetzt auf seiner Schulter, das Benimmbuch der Baronin Staff unterm Arm. Er kam nun richtig in Fahrt: »Na, mein Freund, jetzt sind Sie zufrieden mit sich, nicht wahr? Ah! Er fühlt sich gut, unser wackerer Recke! Herzlichen Glückwunsch, wirklich. Und nun? Was machen wir nun?« Philibert war völlig durcheinander. Camille flüsterte:
»... Durst...«
Ihr Retter stürzte in die Küche, doch der andere Miesmacher erwartete ihn auf dem Rand des Spülbeckens: »Aber ja! Machen Sie weiter. Und der Drachen? Wollen Sie nicht auch noch gegen den Drachen kämpfen?« »Ach, halt die Klappe!« antwortete Philibert. Er konnte es gar nicht fassen und eilte leichteren Herzens zurück ans Bett der Kranken. Letztendlich war es gar nicht so schwer. Franck hatte recht: Mitunter brachte einmal Fluchen mehr als langes Reden. Entsprechend aufgebaut gab er ihr zu trinken und faßte sich ein Herz: Er zog sie aus.

Es war nicht einfach, denn sie trug mehr Lagen als eine Zwiebel. Er zog ihr zuerst den Mantel aus, dann die Jeansjacke. Anschließend kam der Pullover, dann ein zweiter, ein Rollkragenpulli und schließlich eine Art langärmliges Hemd. Nun ja, sagte er sich, ich kann es ihr nicht anlassen, es läßt sich ja fast auswringen. SeiÕs drum, ich werde ihren... na ja, ihren Büstenha... Oh Schreck! Bei allen Heiligen im Himmel! Sie trug überhaupt keinen! Schnell, er schlug die Decke über ihren Oberkörper. Gut. Jetzt den unteren Teil. Hierbei fühlte er sich wohler, weil er sich unter der Decke vortasten konnte. Er zog mit aller Kraft an den Hosenbeinen. Gottlob, das Höschen kam nicht mit.
»Camille? Haben Sie die Kraft unter die Dusche zu steigen?«
Keine Antwort.

Er schüttelte mißbilligend den Kopf, ging ins Badezimmer, füllte einen Krug mit heißem Wasser, in den er etwas Eau de Cologne träufelte, und bewaffnete sich mit einem Waschlappen.

Nur Mut, Soldat!

Er schlug die Decke zurück und erfrischte sie zunächst vorsichtig mit dem Waschlappen, dann etwas beherzter.
Er rieb den Kopf, den Hals, das Gesicht, den Rücken, die Achseln, die Brüste ab, weil er mußte, und konnte man das hier überhaupt Brüste nennen? Den Bauch und die Beine. Den Rest, meine Güte, das mußte sie selbst sehen. Er wrang den Waschlappen aus und legte ihn ihr auf die Stirn.
Jetzt brauchte sie ein Aspirin. Er zog so fest an der Küchenschublade, daß sich der gesamte Inhalt auf den Boden entlud. Zum Teufel. Aspirin, Aspirin...

Franck stand in der Tür, den Arm unterm T-Shirt, und kratzte sich den Bauch:
»Huuuaaa«, gähnte er, »was ist hier los? Was soll die Sauerei?«
»Ich suche Aspirin.«
»Im Schrank.«
»Danke.«
»Brummt dir der Schädel?«
»Nein, es ist für eine Freundin.«
»Die Kleine aus dem siebten Stock?«
»Ja.«
Franck feixte:
»Moment mal, warst du grad bei ihr? Da oben?«
»Ja. Laß mich bitte durch.«
»Hör auf, das glaub ich nicht... Dann bist du gar nicht mehr Jungfrau!«
Seine sarkastischen Sprüche folgten ihm bis in den Flur:
»Und? Zieht Sie gleich am ersten Abend die Nummer mit der Migräne ab, ehrlich? Scheiße, das fängt nicht gut an, Junge.«

Philibert schloß die Tür hinter sich, drehte sich um und flüsterte deutlich hörbar: »Halt die Klappe, du.«

Er wartete, bis die Tablette alle Bläschen abgegeben hatte, dann störte er sie ein letztes Mal. Er meinte, sie »Papa...« flüstern zu hören. Es sei denn, sie wollte sagen »Pa... Passe«, weil sie vermutlich keinen Durst mehr hatte. Er wußte es nicht.
Er befeuchtete erneut den Waschlappen, deckte sie ganz zu und verharrte einen Moment.
Sprachlos, entsetzt und stolz.
Ja, stolz.

21. Kapitel
Camille wurde von U2 geweckt. Sie glaubte zuerst bei den Kesslers zu sein und nickte noch einmal ein. Nein, dachte sie wirr, nein, das war nicht möglich... Weder Pierre noch Mathilde noch ihr Dienstmädchen würden Bono so laut aufdrehen. Irgendetwas stimmte nicht. Sie öffnete langsam die Augen, stöhnte über ihren Brummschädel und wartete im Halbdunkel darauf, etwas erkennen zu können.

Wo war sie bloß? Was war...?

Sie drehte den Kopf. Ihr ganzer Körper sträubte sich. Die Muskeln, die Gelenke und das bißchen Fleisch, das sie auf den Rippen hatte, versagten ihr den Dienst. Sie biß die Zähne zusammen und richtete sich ein paar Zentimeter auf. Sie fröstelte und war erneut schweißgebadet.
Das Blut pochte ihr in den Schläfen. Sie wartete einen Moment, unbeweglich, die Augen geschlossen, bis der Schmerz nachließ.

Sie öffnete die Augen zu kleinen Schlitzen und stellte fest, daß sie in einem seltsamen Bett lag. Das Tageslicht drang kaum durch die Zwischenräume der Jalousien, und riesige Samtvorhänge, die sich halb von der Stange gelöst hatten, hingen an beiden Enden jämmerlich herab. Ihr gegenüber befand sich ein Kamin aus Marmor, darüber ein mit blinden Flecken übersäter Spiegel.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 21.10.2005