10.10.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Bescheidenheit ist in der Welt keine Tugend

Im Gespräch: US-Handelskammer-Präsident Fred Irwin

Frankfurt (WB). Der Wirtschaftsstandort Deutschland ist besser als die Deutschen glauben. Trotzdem gibt es Veränderungsbedarf. Bernhard Hertlein sprach darüber mit Fred B. Irwin, Präsident der Amerikanischen Handelskammer in Deutschland und Vorstand der nordamerikanischen Citigroup. Am kommenden Mittwoch spricht Irwin auf Einladung der IHK Ostwestfalen in Bielefeld.
»Kein Land ist als Wirtschaftsstandort vollkommen«, sagt Fred B. Irwin.

Wir sind verunsichert. Die Arbeitsplätze verlassen Deutschland. Es heißt, die Lohnkosten seien zu hoch und die Arbeitszeiten zu kurz. Gleichzeitig bekommen wir aber beste Noten etwa im »Economist«. Was ist richtig?Irwin: Beide Feststellungen sind wahr. Der »Economist« rückt mit seinem Bericht nur den Informationsstand über Deutschland wieder etwas zurecht. Ansonsten lesen die Menschen weltweit vor allem, was verkehrt ist in Deutschland. Sie vergessen, dass 2000 US-Unternehmen in Deutschland investieren. Das täten sie nicht, wenn der Standort so schlecht wäre, wie ihn die Deutschen meist selbst in der Öffentlichkeit darstellen. Kein Land ist vollkommen, auch nicht die USA.

Was ist aus der Sicht von US-Unternehmen das größte Defizit in Deutschland?Irwin: Am Notwendigsten ist ein »Emotional Turnaround«.

Was verstehen Sie unter einer »emotionalen Wende«?Irwin: Eine Änderung der Ansichten und ein Richtungswechsel in den Köpfen. Das Ergebnis der Bundestagswahl hat leider wieder einmal gezeigt, dass viele Bundesbürger vor allem den Status quo erhalten wollen. Für Wirtschaft und Politik in Deutschland kann das nur heißen, dass ihre Aufklärungsarbeit noch nicht gut genug ist. Die Welt hat sich verändert, und die Staatskassen sind leer. Ohne größere Eigenverantwortung und Eigenvorsorge geht es nicht mehr. Leider sehen viele Deutsche in der Forderung, dass sich Leistung lohnen muss, keine Chance, sondern eine Bedrohung. Sie erkennen das beispielsweise bei der Kritik an den Vorstandsgehältern.

   Gibt es sie in den USA nicht?Irwin: Ein Amerikaner, der erfährt, wie viel sein Vorstandsvorsitzender verdient, erblasst nicht vor Neid. Er nimmt sich nur vor: So viel will ich demnächst auch verdienen.

Was sind die größten Vorteile des Standorts Deutschland?Irwin: Vorteile gibt es sehr viele. Neben der Infrastruktur möchte ich hier vor allem den Kerncharakter der Bundesbürger nennen. Eigentlich sind sie gar nicht so ängstlich.

    Wie kommen Sie darauf?Irwin: Beispielsweise durch ihr Verhalten bei Katastrophen. Das bekamen sogar wir jetzt wieder in den USA zu sehen, als tausende Feuerwehrleute und andere Freiwillige aus Deutschland in New Orleans geholfen haben, die Schäden des Hurrikans zu überwinden. Die Medien berichten im Allgemeinen zu negativ über Deutschland.

    Auch die amerikanischen?Irwin: Na klar, die schreiben doch in Deutschland ab. Die Deutschen -Êvor allem die Journalisten, Politiker und Unternehmer -Êmüssen die Stärken dieses Landes besser sehen und bekannt machen. Bescheidenheit ist in dieser Welt keine Tugend.

Gibt es Regionen innerhalb Deutschlands, die von US-Investoren bevorzugt werden?Irwin: Traditionell ist es der Südwesten -Êalso jene Gebiete, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur Amerkanischen Besatzungszone gehört haben. Nach der Wende zog es aber auch viele US-Konzerne in die neuen Bundesländer. Seit dem Jahr 2000 haben amerikanische Anleger 70 Milliarden Euro in Deutschland investiert. Für dieses Geld haben sie 400 Firmen und 600 000 Privatwohnungen gekauft.

Was muss Ostwestfalen-Lippe tun, um für US-Anleger attraktiver zu werden?Irwin: Die besten Botschafter sind die Unternehmen und die Unternehmer aus Ostwestfalen-Lippe. Besonders der Mittelstand sollte auf Reisen oder Messen mehr Kontakt zu Ausländern suchen. Und dann sollten sie positiv über das Land sprechen. Die gerade gestartete neue Kampagne »Du bist Deutschland« geht absolut in die richtige Richtung.

Artikel vom 10.10.2005