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Sie sind sehr liebenswürdig. Aber es ist alles in Ordnung. Alles in Ordnung, das versichere ich Ihnen, und außerdem habe ich jetzt einen schönen Kamin!«
Er schien nicht länger so begeistert.
»Wie alt sind Sie? Wenn es nicht zu indiskret ist, natürlich...«
»Sechsundzwanzig. Im Februar werde ich siebenundzwanzig.«
»Wie meine kleine Schwester.«
»Sie haben eine kleine Schwester?«
»Nicht eine, sechs!«
»Sechs Schwestern!«
»Ja. Und einen Bruder.«
»Und Sie wohnen allein in Paris?«
»Ja, das heißt, mit meinem Mitbewohner.«
»Verstehen Sie sich gut?«
Als er nicht antwortete, insistierte sie:
»Nicht sehr gut?«
»Doch, doch. Alles in Ordnung! Wir sehen uns ohnehin so gut wie nie.«
»Aha?«
»Sagen wir so, es ist nicht gerade das Schloß Anet!«
Sie lachte.
»Arbeitet er?«
»Er tut nichts anderes. Er arbeitet, schläft, arbeitet, schläft. Und wenn er nicht schläft, bringt er Mädchen mit... Eine seltsame Person, die sich ausschließlich brüllend verständigen kann. Ich begreife nicht, was sie an ihm finden. Das heißt, ich habe da schon so meine Vorstellungen, aber nun...«
»Was macht er?«
»Er ist Koch.«
»Oh? Kocht er Ihnen wenigstens was Nettes?«
»Niemals. Ich habe ihn noch nie in der Küche gesehen. Außer morgens, wenn er meine Kaffeekanne geißelt.«
»Ist er ein Freund von Ihnen?«
»Gott bewahre, nein! Ich habe ihn durch eine Anzeige gefunden, einen Zettel auf der Theke der Bäckerei gegenüber: Junger Koch im Vert Galant sucht Zimmer für seinen Mittagsschlaf in der nachmittäglichen Arbeitspause. Anfangs kam er nur ein paar Stunden täglich, und dann war er plötzlich ganz da.«
»Stört Sie das?«
»Keineswegs! Ich habe es ihm selbst vorgeschlagen. Denn, Sie werden sehen, eigentlich ist es ein bißchen groß für mich. Und außerdem kennt er sich mit allem aus. Mir, der ich nicht einmal eine Glühbirne wechseln kann, kommt das sehr gelegen. Er kennt sich mit allem aus, er ist ein ausgemachter Fuchs, wahrhaftig. Seit er bei mir wohnt, ist meine Stromrechnung zusammengeschmolzen wie Schnee in der Sonne.«
»Hat er den Zähler manipuliert?«
»Er manipuliert alles, was er berührt, so mein Eindruck. Ich weiß nicht, was er als Koch taugt, aber als Bastler rangiert er ganz oben. Und da bei mir alles verfällt... Nein... Und außerdem mag ich ihn. Ich habe mich noch nie richtig mit ihm unterhalten, aber ich habe das Gefühl, daß er... Nun ja, ich weiß es nicht. Manchmal habe ich das Gefühl, mit einem Mutanten unter einem Dach zu wohnen.«
»Wie in Alien?«
»Pardon?«
»Nein. Nichts.«
Da Sigourney Weaver noch nie mit einem König dunkle Geschäfte gemacht hatte, ließ sie es bleiben.

Sie räumten gemeinsam auf. Als er ihr winziges Waschbecken sah, bat Philibert sie inständig, ihm den Abwasch zu überlassen. Da sein Museum montags geschlossen sei, habe er am nächsten Tag nichts anderes zu tun.
Sie verabschiedeten sich in aller Form.
»Das nächste Mal kommen Sie zu mir.«
»Gerne.«
»Ich habe aber bedauerlicherweise keinen Kamin.«
»Tja! Es hat nicht jeder das Glück, ein Landhaus in Paris zu besitzen.«
»Camille?«
»Ja.«
»Sie passen auf sich auf, nicht wahr?«
»Ich bemühe mich. Sie aber auch, Philibert.«
»Ich... I...«
»Ja?«
»Ich muß Ihnen unbedingt... die Wahrheit sagen, es ist nämlich so, daß ich nicht wirklich in einem Museum arbeite, wissen Sie? Eher draußen... In einem Laden oder so. Ich... Ich verkaufe Postkarten.«
»Und ich, ich arbeite nicht wirklich in einem Büro, wissen Sie? Auch eher draußen. Ich gehe putzen.«

Sie tauschten ein schicksalergebenes Lächeln und gingen verschämt auseinander.
Verschämt und erleichtert.

Es war ein äußerst gelungenes russisches Abendessen.

12. Kapitel
W
as ist das für ein Geräusch?«
»Keine Panik, das ist unser Herzog.«
»Aber was macht er denn da? Klingt, als wollte er die Küche unter Wasser setzen.«
»Scheißegal, laß gut sein. Komm lieber her, du.«
»Nein, laß mich.«
»Los, komm schon. Komm... Warum ziehst du dein T-Shirt nicht aus?«
»Mir ist kalt.«
»Jetzt komm schon.«
»Ein komischer Kauz, oder?«
»Total gaga. Du hättest ihn sehen sollen, wie er vorhin gegangen ist, mit seinem Stock und seinem Clownshut. Ich dachte, er wollte zu einem Kostümball.«
»Wo ist er hin?«
»Zu einem Mädchen, glaube ich.«
»Einem Mädchen!«
»Ich glaub schon, was weiß ich. Ist doch egal. Komm, dreh dich um, Scheiße.«
»Laß mich.«
»He, Aurélie, du nervst echt.«
»Aurélia, nicht Aurélie.«
»Aurélia, Aurélie, ist doch egal. Okay. Und deine Socken, willst du die die ganze Nacht anbehalten?«

13. Kapitel
Obwohl es strengstens verboten war, strictly forbidden, legte Camille ihre Kleider auf den Kaminsims, blieb so lange wie möglich im Bett, zog sich unter der Decke an und wärmte die Knöpfe ihrer Jeans in den Händen vor, bevor sie sie überstreifte.
Das Dichtungsband aus Schaumstoff schien nicht sehr effektiv zu sein, und sie hatte ihre Matratze verschoben, um nicht länger dem gräßlichen Luftzug ausgesetzt zu sein, der sich ihr durch die Stirn bohrte. Jetzt lag ihr Bett vor der Tür, und das Kommen und Gehen war ein ziemlicher Aufstand. Sie war ständig dabei, die Matratze hierhin und dorthin zu ziehen, um auch nur drei Schritte machen zu können. Was für ein Elend, dachte sie, was für ein Elend...
Sie war schmutzig. Das heißt, vielleicht nicht wirklich schmutzig, aber weniger sauber als sonst. Ein-, zweimal die Woche, wenn sie sich sicher war, sie nicht zu Hause anzutreffen, ging sie zu den Kesslers. Sie kannte die Zeiten der Putzfrau, und diese hielt ihr seufzend ein großes Frotteehandtuch hin. Sie konnte niemandem etwas vormachen. Sie zog immer mit einem Carepaket oder einer zusätzlichen Decke wieder ab. Einmal allerdings, als sie sich die Haare trocknete, war es Mathilde gelungen, sie sich vorzuknöpfen:
»Willst du nicht wieder für einige Zeit hier wohnen? Du könntest dein altes Zimmer wiederhaben?«
»Nein, vielen Dank, vielen Dank euch beiden, aber es ist in Ordnung. Es geht mir gut.«
»Arbeitest du?«
Camille schloß die Augen.
»Ja, ja.«
»Wie weit bist du mit der Arbeit? Brauchst du Geld? Gib uns was, Pierre könnte dir einen Vorschuß geben, weißt du?«
»Nein. Ich habe im Moment nichts fertig.«
»Und die ganzen Bilder bei deiner Mutter?«
»Ich weiß nicht. Man müßte sie mal durchsehen. Ich habe keine Lust.«
»Und deine Selbstporträts?«
»Die sind unverkäuflich.«
»Woran sitzt du denn zur Zeit?«
»Nichts Großes.«
»Warst du mal wieder am Quai Voltaire?«
»Noch nicht.«
»Camille?«
»Ja.«
»Willst du nicht mal diesen verfluchten Fön ausstellen? Damit man sich besser unterhalten kann?«
»Ich habe es eilig.«
»Was machst du denn genau?«
»Pardon?«
»Was für ein Leben führst du zur Zeit? Wie sieht es genau aus?«

Um nie wieder auf solche Fragen antworten zu müssen, stürzte Camille, vier Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter und stieß die Tür zum erstbesten Friseur auf.

14. Kapitel
Einmal kahlrasieren«, sagte sie zu dem jungen Mann, der über ihr im Spiegel aufragte.
»Wie bitte?«
»Ich möchte, daß Sie mich kahlscheren.«
»Eine Glatze?«
»Ja.«
»Nein. Das kann ich nicht machen.«
»Doch, doch, das können Sie. Nehmen Sie Ihre Schneidemaschine, und legen Sie los.«
»Nein, wir sind hier nicht bei der Armee. Ich will Ihnen die Haare gern kurz schneiden, aber keine Glatze. Das ist nicht der Stil des Hauses... Nicht, Carlo?«
Carlo stand hinter der Kasse und las eine Zeitschrift über Pferderennen.
»Worum gehtÕs?«
»Die junge Frau hier möchte, daß wir ihr einen Kahlschnitt verpassen.«
Der andere wedelte mit der Hand, was so viel bedeutete wie, was kümmertÕs mich, ich habe gerade zehn Euro verzockt, also geht mir nicht auf die Nerven.
»Fünf Millimeter.«
»Pardon?«
»Ich schneide sie Ihnen auf fünf Millimeter, sonst trauen Sie sich nicht mal mehr hier raus.«(wird fortgesetzt)

Artikel vom 17.10.2005