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Das Zimmer war mit einem geblümten Stoff tapeziert, dessen Farben sie nicht genau erkennen konnte. Überall hingen Gemälde. Porträts von schwarzgekleideten Männern und Frauen, die über ihre Anwesenheit ebenso erstaunt zu sein schienen wie sie. Nun wandte sie sich dem Nachttisch zu und erblickte eine wunderschöne, mit Gravuren versehene Karaffe neben einem Senfglas von Scooby Doo. Sie war kurz vorm Verdursten, und die Karaffe war voll Wasser, aber sie traute sich nicht, davon zu trinken: In welchem Jahrhundert war sie gefüllt worden?

Gute Güte, wo war sie bloß, und wer hatte sie in dieses Museum gebracht?

Ein Blatt Papier lehnte gefaltet an einem Kerzenständer: »Ich habe nicht gewagt, Sie heute morgen zu wecken. Ich bin zur Arbeit gegangen und komme gegen sieben Uhr zurück. Ihre Kleider liegen über dem Lehnstuhl. Im Kühlschrank ist etwas Ente, und am Fußende steht eine Flasche Mineralwasser. Philibert.«
Philibert? Was machte sie nur im Bett dieses Jungen?
Hilfe.

Sie konzentrierte sich, um Fetzen der Erinnerung an unwahrscheinliche nächtliche Ausschweifungen heraufzubeschwören, doch ihre Erinnerungen gingen nicht über den Boulevard Brune hinaus. Sie saß zusammengekrümmt an einer Bushaltestelle und flehte einen großen Typen im dunklen Mantel an, ein Taxi für sie anzuhalten. War es Philibert? Nein, und doch... Nein, er war es nicht, daran würde sie sich erinnern.
Jemand hatte die Musik abgestellt. Sie hörte Schritte, ein Grunzen, eine Tür, die zufiel, eine zweite, dann nichts mehr. Stille.
Sie mußte dringend wohin, wartete aber noch einen Moment, horchte auf jedes erdenkliche Geräusch und war schon von dem Gedanken erschöpft, ihr armes Gerippe zu bewegen.
Sie schob die Decke weg und schlug die Steppdecke zurück, die ihr schwer vorkam wie ein toter Esel.

Als sie die Füße auf den Holzfußboden setzte, krümmten sich die Zehen. Zwei Hausschuhe aus Ziegenleder erwarteten sie an der Teppichkante. Sie stand auf, sah, daß sie das Oberteil eines Männerpyjamas trug, schlüpfte in die Hausschuhe und legte sich die Jeansjacke um die Schultern.
Vorsichtig drehte sie am Türknauf und fand sich in einem riesigen, ziemlich dunklen Flur von mindestens fünfzehn Metern Länge wieder.
Sie machte sich auf die Suche nach der Toilette.
Nein, das hier war ein Schrank, hier ein Kinderbett mit einem Doppelbett und einem von Motten zerfressenen Schaukelpferd. Hier... Keine Ahnung... Ein Büro vielleicht? Auf einem Tisch am Fenster lagen so viele Bücher, daß das Tageslicht kaum noch durchdrang. Ein Säbel und eine weiße Schärpe hingen an der Wand, desgleichen ein Pferdeschweif, der an einem Messingring befestigt war. Ein echter Schweif von einem echten Pferd. Eine äußerst seltsame Reliquie.
Hier! Die Toilette!
Der Klodeckel war aus Holz, ebenso der Griff der Wasserspülung. Die Kloschüssel mußte angesichts ihres Alters schon Generationen von unter Reifröcken versteckten Pobacken gesehen haben. Camille zögerte zunächst, aber nein, alles funktionierte bestens. Das Rauschen der Wasserspülung war verwirrend. Als würden die Niagarafälle auf ihrem Kopf niedergehen.

Ihr war schwindlig, doch sie setzte ihren Rundgang auf der Suche nach einer Schachtel Aspirin fort. Sie betrat ein Zimmer, in dem unbeschreibliches Chaos herrschte. Überall lagen Kleider herum, inmitten von Zeitschriften, leeren Bierflaschen und losen Blättern: Lohnzettel, küchentechnische Daten, Wartungshinweise für eine GSX-R sowie verschiedene Mahnungen vom Finanzamt. Auf dem hübschen Bett im Stil Ludwig XVI. lag eine häßliche buntgescheckte Decke, und Kifferutensilien warteten auf den feinen Intarsien des Nachttischs auf ihren Einsatz. Also, hier roch es nach Raubtier.

Die Küche befand sich am Ende des Flurs. Ein kalter Raum, grau und trist, mit alten, blassen Fliesen, akzentuiert von schwarzem Cabochon. Die Arbeitsflächen waren aus Marmor, die Schränke fast alle leer. Nichts außer der geräuschvollen Präsenz eines antiken Kühlschranks wies darauf hin, daß hier Menschen lebten... Sie fand das Röhrchen mit den Tabletten, holte sich ein Glas neben der Spüle und setzte sich auf einen Resopalstuhl. Die Decke war schwindelerregend hoch, und die weißen Wände faszinierten sie. Es mußte ziemlich alte Farbe sein, auf Bleibasis, und die Jahre hatten ihr eine samtglänzende Patina verliehen. Weder perlweiß noch eierschalen, eher das Weiß von Milchreis oder den faden Nachtischen einer Kantine... Sie ging im Geiste einige Mischfarben durch und nahm sich vor, irgendwann mit zwei oder drei Tuben wiederzukehren, um die Farbe besser bestimmen zu können. Sie verirrte sich in der Wohnung und fürchtete, ihr Zimmer nicht wiederzufinden. Sie sank aufs Bett, dachte einen Moment daran, die Klatschbase von Proclean anzurufen, und schlief sofort wieder ein.

22. Kapitel
Alles in Ordnung?«
»Sind Sie es, Philibert?«
»Ja.«
»Liege ich in Ihrem Bett?«
»In meinem Bett? Aber, aber... Aber nein, also... Niemals würde ich...«
»Wo bin ich?«
»In den Gemächern meiner Tante Edmée, Tante Mée für die engeren Familienangehörigen. Wie fühlen Sie sich, meine Liebe?«
»Erschöpft. Mir ist, als hätte mich eine Dampfwalze überrollt.«
»Ich habe einen Arzt angerufen.«
»Oh nein, das ist nicht nötig!«
»Nicht nötig?«
»Oh... Oder doch. Das war eine gute Idee. Ich brauche auf jeden Fall einen Krankenschein.«
»Ich habe eine Suppe aufgesetzt.«
»Ich habe keinen Hunger.«
»Sie werden sich zwingen. Wir müssen Sie wieder aufpäppeln, sonst ist Ihr Körper zu schwach, um den Virus abzuwehren und zurückzutreiben. Warum lachen Sie?«
»Weil Sie so reden, als befänden wir uns im Hundertjährigen Krieg.«
»Dies dauert hoffentlich nicht so lang!... Ah, hören Sie? Das ist bestimmt der Arzt«
»Philibert?«
»Ja?«
»Ich habe nichts hier... Keine Schecks, kein Geld, nichts...«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Das klären wir später... Bei den Friedensverträgen.«

23. Kapitel
»Und?«
»Sie schläft.«
»Ja?«
»Ist sie mit Ihnen verwandt?«
»Eine Freundin.«
»Was für eine Freundin?«

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 22.10.2005