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Lestafier warf den Kopf in den Nacken und hielt den Daumen vor den Mund.
»Ich komme. Drei Sachen noch, dann bin ich ganz für dich da...«

Sie hatten vor, auf Sauftour zu gehen, aber Franck war schon nach der zweiten Kneipe sturzbetrunken.
In dieser Nacht fiel er in ein Loch, nicht das Loch seiner Kindheit. Ein anderes.

18. Kapitel
Na ja, ich wollte gerne... Bitte entschuldigen Sie mich. Das heißt, ich wollte Sie bitten...«
»Was denn, mein Junge?«
»Mir zu verzeihen.«
»Ich habe dir schon verziehen, du. Das hast du so nicht gemeint, das weiß ich, du solltest aber trotzdem aufpassen... Weißt du, man muß den Leuten, die einen korrekt behandeln, mit Respekt begegnen. Du wirst schon sehen, wenn du älter wirst, daß dir davon nicht so viele über den Weg laufen...«
»Wissen Sie, ich habe über das nachgedacht, was Sie mir gestern gesagt haben, und auch wenn es mir die Zunge versengt, Ihnen das zu sagen, weiß ich genau, daß Sie recht haben.«
»Natürlich habe ich recht. Ich kenne doch die Alten, ich sehe sie hier den ganzen Tag.«
»Dann äh...«
»Was?«
»Das Problem ist, ich habe nicht die Zeit, mich darum zu kümmern, ich meine, einen Platz zu finden und all das.«
»Willst du, daß ich das übernehme?«
»Ich kann Ihnen die Stunden bezahlen, wissen Sie.«
»Jetzt fang nicht wieder an, mich zu beleidigen, du Dummerchen, ich will dir gerne helfen, aber du mußt es ihr sagen. Du mußt ihr die Situation erklären.«
»Kommen Sie mit?«
»Das will ich gern, wenn es dir hilft, aber weißt du, was ich davon halte, weiß sie genau. Seit ich sie bearbeite...«
»Wir müssen unbedingt etwas Hochwertiges für sie finden. Ein schönes Zimmer und einen großen Park vor allem...«
»Das ist sehr teuer, das weißt du...«
»Wie teuer?«
»Über zehntausend im Monat.«
»Eh... Moment mal, Madame Carminot, wovon sprechen Sie da? Wir haben jetzt den Euro...«
»Ach, der Euro. Ich rechne, wie ich immer gerechnet habe, und für ein gutes Heim muß man mit mehr als zehntausend Franc im Monat rechnen.«
»...«
»Franck?«
»Das ist... Das ist das, was ich verdiene.«
»Du mußt zum Sozialamt gehen und Wohngeld beantragen, prüfen lassen, was die Rente deines Großvaters bringt, und sie dann bei der APA registrieren lassen...«
»Was ist denn eine Appa?«
»Das ist eine Anlaufstelle für Pflegefälle und Behinderte.«
»Aber... Sie ist doch nicht wirklich behindert, oder?«
»Nein, aber sie muß eben mitspielen, wenn die ihr einen Gutachter vorbeischicken. Es darf nicht so aussehen, als würde sie noch alles mitkriegen, sonst gibtÕs nicht viel...«
»Oh, Scheiße Mann, was für ein Mist... Pardon.«
»Ich halte mir die Ohren zu.«
»Ich habe keine Zeit, diese ganzen Papiere auszufüllen... Wollen Sie die Lage für mich ein wenig sondieren?«
»Mach dir keine Sorgen, ich werde das Thema am nächsten Freitag im Club ansprechen, ich bin sicher, daß ich einiges rauskriege!«
»Ich danke Ihnen, Madame Carminot...«
»Schon gut. Das ist doch das mindeste, oder?«
»Gut, okay, ich muß jetzt zur Arbeit...«
»Du bist ja mittlerweile ein richtiger Meisterkoch!«
»Wer sagt das?«
»Madame Mandel.«
»Aha.«
»Ja, ja, wenn du wüßtest. Sie schwärmt noch heute davon! Du hast ihnen einmal einen fürstlichen Hasen vorgesetzt.«
»Das weiß ich nicht mehr.«
»Aber sie weiß es noch, das kannst du mir glauben! Sag mal, Franck?«
»Ja?«
»Ich weiß zwar, daß es mich nichts angeht, aber... deine Mutter?«
»Was ist mit meiner Mutter?«
»Ich weiß nicht, aber ich habe überlegt, ob man sie nicht auch informieren sollte. Sie könnte dir vielleicht bei der Finanzierung helfen.«
»Wer beleidigt hier jetzt wen, Yvonne, dabei sollten Sie sie gut genug kennen.«
»Menschen können sich ändern, weißt du...«
»Sie nicht.«
»...«
»Nein. Sie nicht... Okay, ich muß los, ich bin spät dran...«
»Auf Wiederhören, mein Junge.«
»Eh...?«
»Ja?«
»Versuchen Sie trotzdem, etwas Billigeres zu finden...«
»Ich will mal sehen, ich sage dir Bescheid.«
»Danke.«

Es war so kalt an diesem Tag, daß Franck froh war über die Hitze in der Küche und seine Sträflingsarbeit. Der Chef war gut gelaunt. Sie hatten wieder Leute abweisen müssen, und er hatte gerade erfahren, daß er in einer Lifestyle-Zeitschrift eine gute Besprechung bekommen würde.
»Bei diesem Wetter, Jungs, werden wir heute Gänseleber umsetzen und den besten Wein ausschenken! Das warÕs jetzt mit Salaten, leichter Kost und dem ganzen Mist! Schluß damit! Ich will es schön, ich will es gut, und ich will, daß die Gäste um zehn Grad wärmer hier rausgehen! Los jetzt, Männer! Schmeißt das Feuer an!«

19. Kapitel
Camille hatte Mühe, die Treppe hinunterzugelangen. Sie hatte fürchterliche Gliederschmerzen und eine heftige Migräne. Als hätte ihr jemand ein Messer ins rechte Auge gerammt und machte sich einen Spaß daraus, die Klinge bei jeder Bewegung ein wenig zu drehen. Unten angekommen, hielt sie sich an der Wand fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Sie schlotterte, sie bekam keine Luft. Sie dachte einen Augenblick daran, umzukehren und sich hinzulegen, aber die Vorstellung, die sieben Stockwerke wieder hinaufzusteigen, schien ihr noch unausführbarer, als zur Arbeit zu gehen. In der Metro würde sie sich wenigstens setzen können.

Als sie die Eingangshalle durchquerte, stieß sie gegen einen Bären. Es war ihr Nachbar, im langen Pelzmantel.
»Oh, Pardon Monsieur«, entschuldigte er sich, »ich...«
Er sah auf.
»Camille, sind SieÕs?«
Da sie nicht die Kraft für den geringsten Plausch aufbrachte, schlüpfte sie unter seinem Arm hindurch.
»Camille! Camille!«
Sie vergrub die Nase in ihrem Schal und beschleunigte ihre Schritte. Diese Anstrengung zwang sie bald, sich auf einen Parkscheinautomaten zu stützen, um nicht zu fallen.
»Camille, alles in Ordnung? Mein Gott, aber... Was haben Sie denn mit Ihren Haaren gemacht? Oh, wie krank Sie aussehen, haben Sie... Sie sehen ganz krank aus! Und Ihre Haare? Ihre wunderschönen Haare.«
»Ich muß los, ich bin schon spät dran.«
»Aber es ist klirrend kalt, meine Liebe! Gehen Sie nicht ohne Kopfbedeckung, Sie holen sich den Tod. Hier, nehmen Sie wenigstens meine Kosakenmütze.«
Camille rang sich ein Lächeln ab.
»Hat die auch Ihrem Onkel gehört?«
»Teufel, nein! Eher meinem Urgroßvater, der den kleinen General auf seinen Rußlandfeldzügen begleitet hat.«
Er zog ihr die Mütze bis zu den Augenbrauen herunter.
»Sie wollen behaupten, dieses Stück hier hätte Austerlitz mitgemacht?« mühte sie sich zu scherzen.
»Aber gewiß! Auch Beresina, leider... Aber Sie sind ganz blaß. Sind Sie sicher, daß es Ihnen gutgeht?«
»Ich bin ein bißchen müde.«
»Sagen Sie, Camille, ist Ihnen da oben nicht zu kalt?«
»Ich weiß nicht. Okay, ich... Ich muß los. Danke für die Mütze.«

Eingelullt von der Hitze in der Metro schlief sie ein und wachte erst an der Endstation wieder auf. Sie setzte sich in den Gegenzug und zog sich die Bärenmütze über die Augen, um vor Erschöpfung heulen zu können. Puh, dieses alte Ding stank fürchterlich.

Als sie endlich an der richtigen Haltestelle ausstieg, war die Kälte, die sie umfing, so schneidend, daß sie sich in das Wartehäuschen einer Bushaltestelle setzen mußte. Sie legte sich quer über die Sitze und bat den jungen Mann neben sich, ihr ein Taxi zu besorgen.

Sie kroch auf Knien in ihr Zimmer und fiel in voller Länge auf die Matratze. Sie hatte nicht die Kraft, sich auszuziehen, und dachte eine Sekunde lang, sie würde auf der Stelle sterben. Wer würde es erfahren? Wen würde es kümmern? Wer würde um sie weinen? Sie zitterte vor innerer Hitze, und der Schweiß hüllte sie in ein eisiges Leichentuch.

20. KapitelPhilibert stand gegen zwei Uhr nachts auf, um ein Glas Wasser zu trinken. Die Fliesen in der Küche waren eiskalt, und der Wind drückte heftig gegen die Fensterscheiben. Einen Moment lang betrachtete er die verlassene Straße und murmelte Erinnerungsfetzen aus seiner Kindheit vor sich hin. Und dräut der Winter noch so sehr mit trotzigen Gebärden... Das Außenthermometer zeigte minus sechs Grad, und er konnte nicht umhin, an das kleine Persönchen da oben zu denken. Schlief sie? Und was hatte sie mit ihren Haaren gemacht, die Unglückliche?
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 20.10.2005