15.10.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 


Wenn Sie wüßten, wie viele Stunden ich damit zugebracht habe, alles zu polieren, bis es glänzt.«
»Das hätten Sie mir doch sagen können!«
»Meinen Sie nicht, wenn ich vorgegeben hätte: ÝHeute abend nicht, ich muß meinen Koffer noch auf Vordermann bringenÜ, Sie hätten mich dann für verrückt gehalten?«
Sie enthielt sich wohlweislich eines Kommentars.

Sie breiteten eine Tischdecke auf dem Boden aus, und Philibert Soundso deckte auf.

Sie setzten sich in den Schneidersitz, erfreut, vergnügt, wie zwei Kinder, die ihr neues Puppengeschirr einweihen, peinlichst darauf bedacht, daß nichts zu Bruch geht. Camille, die nicht kochen konnte, war zu Goubetzkoï gegangen und hatte eine Auswahl an Taramas, Lachs, eingelegtem Fisch und Zwiebelpaste gekauft. Sorgfältig füllten sie die Schälchen des Großonkels und weihten eine Art praktischen Handtoaster ein, bestehend aus einem alten Topfdeckel und Alufolie, um die Blinis auf der Kochplatte zu erhitzen. Der Wodka lag in der Dachrinne, und man brauchte nur das Oberlicht aufzumachen, um sich einzuschenken. Dieses Auf- und Zumachen kühlte das Zimmer zwar aus, aber der Kamin knisterte und bezog sein Feuer von Gott.

Wie gewöhnlich trank Camille mehr, als sie aß.
»Es stört Sie doch nicht, wenn ich rauche?«
»Aber ich bitte Sie. Ich würde allerdings gerne meine Beine ausstrecken, ich fühle mich ganz steif.«
»Setzen Sie sich auf mein Bett.«
»A... aber nicht doch, ich... Ich werde nichts dergleichen tun.«
Bei der geringsten Gefühlsregung vergaß er seine Wörter und seine Eloquenz.
»Aber ja doch, nur zu! Im Grunde ist es ein Schlafsofa.«
»Wenn das so ist.«
»Wir könnten uns vielleicht duzen, Philibert?«
Er erbleichte.
»Oh nein, ich... Was mich betrifft, ich könnte es nicht, aber Sie... Sie...«
»Stop! Zapfenstreich! Ich habe nichts gesagt! Ich habe nichts gesagt! Außerdem finde ich das Siezen wunderbar, es ist sehr charmant, sehr...«
»Pittoresk?«
»Genau!«

Philibert aß auch nicht viel, aber er war so langsam und so behutsam, daß unsere perfekte kleine Hausfrau sich dazu beglückwünschte, ein kaltes Abendessen vorgesehen zu haben. Zum Nachtisch hatte sie Quark gekauft. Tatsächlich hatte sie wie gelähmt vor den Schaufensterauslagen eines Konditors gestanden, völlig fassungslos und außerstande, auch nur einen einzigen Kuchen auszuwählen. Sie holte ihre kleine italienische Espressokanne hervor und trank die schwarze Brühe aus einer Tasse aus derart dünnem Porzellan, daß sie überzeugt war, sie würde zerbrechen, wenn sie daran knabberte.
Sie waren nicht sehr gesprächig. Sie waren es nicht mehr gewohnt, ihre Mahlzeit mit jemandem zu teilen. Das Protokoll war folglich nicht sehr ausgereift, und beiden fiel es schwer, sich aus ihrer Einsamkeit zu lösen. Doch sie waren wohlerzogen und gaben sich Mühe, sich von ihrer besten Seite zu zeigen. Wurden heiter, stießen mit den Gläsern an, gingen das ganze Viertel durch. Die Kassiererinnen im Supermarkt - Philibert mochte die Blonde, Camille zog die Brünette vor -, die Touristen, die Lichtspiele auf dem Eiffelturm und die Hundekacke. Entgegen allen Erwartungen entpuppte sich ihr Gast als perfekter Unterhalter, belebte fortwährend das Gespräch und spickte es mit unzähligen lustigen und belanglosen Themen. Er begeisterte sich für die Geschichte Frankreichs und gestand ihr, daß er den Großteil seiner Zeit in den Kerkern Ludwigs XI. zugebracht hatte, im Vorzimmer Franz I., am mittelalterlichen Tisch der Vendée-Bauern oder mit Marie-Antoinette in der Conciergerie, einer Frau, für die er eine große Leidenschaft hegte. Sie warf ihm ein Thema oder eine Epoche zu und erfuhr eine Unmenge pikanter Details. Über die Kleiderordnung, die Intrigen am Hof, die Höhe der Salzsteuer und die Ahnenfolge der Kapetinger.
Es war sehr amüsant.
Sie hatte das Gefühl, sich auf der Internetseite von Alain Decaux zu befinden.
Ein Klick, eine Zusammenfassung.

»Und Sie sind Lehrer oder so was in der Art?«
»Nein, ich... Nun ja. Ich arbeite in einem Museum.«
»Sind Sie Konservator?«
»Was für ein hochtrabendes Wort! Nein, ich bin eher mit dem kaufmännischen Bereich betraut.«
»Oh«, fügte sie ernst hinzu, »das muß aufregend sein. In welchem Museum?«
»Das kommt drauf an, ich springe. Und Sie?«
»Ach, ich... Das ist weniger interessant, leider, ich arbeite in einem Büro.«
Als er ihre mißmutige Miene sah, besaß er den nötigen Takt, nicht weiter bei dem Thema zu verweilen.
»Ich habe leckeren Quark mit Aprikosenkonfitüre, sagt Ihnen das zu?«
»Sehr! Und Ihnen?«
»Oh danke, aber diese vielen russischen Häppchen haben mich völlig gesättigt.«
»Sie sind nicht gerade beleibt.«
Aus Furcht, er habe etwas Verletzendes gesagt, fügte er sogleich hinzu:
»Aber Sie sind... äh... anmutig. Ihr Gesicht erinnert mich an Diane de Poitiers.«
»War sie hübsch?«
»Oh! Mehr als hübsch!« Er errötete leicht. »Ich... Sie... Sind Sie nie im Schloß Anet gewesen?«
»Nein.«
»Dann wird es aber Zeit. Es ist ein herrlicher Ort, den sie von ihrem Liebhaber, König Heinrich II., geschenkt bekam.«
»Aha?«
»Ja, er ist sehr schön, eine Art Hymne an die Liebe, ihre Initialen sind überall ineinander verschlungen. Im Stein, im Marmor, im Gußeisen, im Holz und auf ihrem Grab. Und auch ergreifend. Wenn ich mich recht entsinne, sind seine Salbendöschen und seine Haarbürsten immer noch da, in seinem Waschraum. Ich werde Sie dort einmal hinführen.«
»Wann?«
»Im Frühling vielleicht?«
»Zu einem Picknick?«
»Selbstverständlich.«

Sie schwiegen einen Moment. Camille versuchte, die Löcher in seinen Schuhen zu übersehen, und Philibert tat das gleiche mit den Salpeterflecken an den Wänden. Sie begnügten sich damit, ihren Wodka in kleinen Schlucken zu genießen.
»Camille?«
»Ja?«
»Wohnen Sie hier wirklich jeden Tag?«
»Ja.«
»Aber äh... der äh... Ich meine... der Abort.«
»Auf dem Treppenabsatz.«
»Ah?«
»Müssen Sie mal?«
»Nein, nein, ich habe mich nur gerade gefragt.«
»Sorgen Sie sich etwa um mich?«
»Nein, das heißt... ja. Es ist... so spartanisch, nicht?«

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 15.10.2005