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Merkels Sozialdemokratisierung nimmt Formen an, bevor die Koalitionsverhandlungen begonnen haben.

Leitartikel
Kanzlerfrage

Ein Sieg,
der nicht viel
wert ist?


Von Ulrich Windolph
Auch wenn die K-Frage gestern noch einmal vertagt wurde, spricht jetzt vieles dafür, dass Angela Merkel ins Kanzleramt einzieht. Immerhin: Deutschland hätte die erste Bundeskanzlerin seiner Geschichte, und dass die aus Reihen der CDU kommt, wäre vor nicht allzu langer Zeit einen formidablen Wetteinsatz wert gewesen. Champagner dürfte in den Reihen der Union trotzdem nicht fließen, denn der Preis für Merkels Kanzlerschaft wird hoch sein.
Angetreten war Angela Merkel, um zu zeigen, dass »Deutschland mehr kann«. Mit einer satten Bundesratsmehrheit im Rücken wollte sie »durchregieren«. Davon bleibt nun so gut wie nichts übrig. Inhaltlich sind die Zugeständnisse an die SPD schon jetzt immens. Die Gesundheitsprämie wird es in einer großen Koalition ebenso wenig geben wie ein revolutionäres Steuerrecht. Auch den langen Arm der Gewerkschaften hat Merkel schon zu spüren bekommen. Änderungen beim Kündigungsschutz und die Besteuerung von Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit wird die SPD mit aller Macht verhindern wollen. Merkels Sozialdemokratisierung nimmt Formen an, noch bevor die Koalitionsverhandlungen überhaupt begonnen haben.
Wie knapp ihr Vorsprung am 18. September ausfiel, dürfte der Kanzlerin auch beim Blick in die Ministerrunde stets vor Augen geführt werden. Wichtige Ressorts werden an die SPD gehen. Gut möglich, dass Schröders »Superminister« Wolfgang Clement dabei bleibt, auch Peter Struck und Otto Schily sind Kandidaten für ein »Wie gehabt«. Sogar beim Bundestagspräsidenten könnte die Union den Kürzeren ziehen.
Im Vergleich zu Gerhard Schröder muss Angela Merkel mit einem gravierenden strategischen Nachteil fertig werden. Schröders Politik wurde zwar auch aus der SPD bekämpft, in erster Linie und für alle klar sichtbar aber stets von den unionsgeführten Ländern im Bundesrat ausgebremst. Angela Merkel dürfte mit vielen Ideen gar nicht erst so weit kommen.
Zur aller Voraussicht nach höchst wachsamen und schlagfertigen Opposition aus FDP, Grünen und Linkspartei kommt nämlich die, die mit am Regierungstisch sitzt. Merkel steuert zwar den Wagen Deutschland, Gas und Bremse bedient aber, vom Straßenrand kaum erkennbar, SPD-Chef Franz Müntefering. Die Frage sei erlaubt: Fährt die Karre am Ende gegen die Wand, wem wird wohl der Führerschein abgenommen?
Bleiben die Heckenschützen aus der Union. Die Kritik von Friedrich Merz ist kaum mehr als ein kleiner Vorgeschmack auf das, was Angela Merkel erwartet, wenn es an die Analyse des so dürftigen Wahlergebnisses geht. Seehofer, Laumann und Co. laufen sich schon warm. Vielleicht muss Angela Merkel schneller von Gerhard Schröder lernen, als es ihr lieb ist. Der hat es auf den letzten Metern seiner Kanzlerschaft noch geschafft, sich mit seiner Partei zu versöhnen. Das steht Angela Merkel erst noch bevor. Eine siebenjährige Regierungszeit wird sie dafür allerdings nicht bekommen.

Artikel vom 07.10.2005