08.10.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Hans-Jürgen Feldmann


Die Städte Sodom und Gomorra sind sprichwörtlich geworden für den Verfall der Sitten und für die völlige Verwahrlosung einer ganzen Gesellschaft. Sexuelle Perversionen sind an der Tagesordnung. Die Bibel, 1. Mose (Genesis), 18 und 19, nimmt da kein Blatt vor den Mund.
Abrahams Neffe Lot, der mit diesem ausgewandert war, hatte sich dorthin gewendet, nachdem sich gezeigt hatte, daß das Land, das sie zunächst gemeinsam bewirtschaften wollten, nicht genügend Erträge abwarf, um beide zu ernähren. Was anfangs- die Gegend war wasserreich - für Lot wie ein Glücksfall aussah, erwies sich auf die Dauer als sein Delemma; denn er hatte nicht geahnt, in was für ein finsteres Milieu er geraten war. Über der blühenden Landschaft waren bereits dunkle Wolken aufgezogen. Gott hatte nämlich beschlossen, den ganzen Sumpf mit Pech und Schwefel auszuräuchern.
Die Geschichten um Abraham und die Seinen passen in kein religiöses Lehrbuch. Abraham dessen Ehe trotz Gottes Verheißung lange Zeit kinderlos geblieben war, versucht es erfolgreich mit seiner ägyptischen Magd Hagar, und zwar - man höre und staune - auf ausdrückliches Anraten seiner Frau.
Später, um das Strafgericht von Sodom und Gomorra abzuwenden, schachert er mit Gott darum, diesen Orte doch zu verschonen, weil sich vermutlich auch Unschuldige darin fänden. Dabei gelingt es ihm, die Zahl der Gerechten, von denen die verkommenden Subjekte dann profitiert hätten, von 50 bis auf zehn herunterzuhandeln. Doch selbst da ist Fehlanzeige. Nicht einmal ein so kleines Häuflein läßt sich auftreiben, und so nimmt das Unheil seinen Lauf.
Lot aber, seine Frau, seine beiden Töchter und deren Verlobte sollen gerettet werden, indem sie rechtzeitig die Flucht ergreifen. Die zukünftigen Schwiegersöhne indessen finden ein solches Ansinnen nur lächerlich und kommen schließlich um. Aber auch Lots Frau, kaum der Gefahrenzone entronnen, wird vom Unglück eingeholt. Sie nämlich hatte die strikte Anweisung eines Engels mißachtet, auf keinen Fall stehenzubleiben oder gar sich umzudrehen. Schon wähnt sie sich in Sicherheit, da heißt es von ihr lapidar: »Und Lots Weib sah hinter sich und ward zur Salzsäule.«
Dieses Motiv findet sich auch in der griechischen Sage: Darin gelingt es dem Sänger Orpheus, seine früh verstorbene Gemahlin Eurydike aus dem Totenreich zurückzuholen. Mit seinem bewegendem Gesang kann er das kalte Herz des Herrn der Unterwelt anrühren und erwärmen und ihn gnädig stimmen.
Er gibt die tote Eurydike wieder frei. Aber auch Orpheus wird zur Auflage gemacht, seine Frau, die ihm folgt, nicht eher anzusehen, bis sie gemeinsam das Reich der Schatten verlassen haben. Doch von Sehnsucht nach der Geliebten erfüllt, wird ihm die Zeit zu lang. Er wendet sich zu Eurydike um; darauf entschwindet ihm diese für immer. Daß er nicht warten kann, wird ihm zum Verhängnis.
Anders liegen die Dinge bei Lots Frau. Die Erzählung schweigt sich darüber aus, was in ihr vorging, als sie der Versuchung nicht widerstehen konnte, ihre Augen zurückzuwenden. War es pure Neugier, oder war die Versuchung in ihr zu groß geworden, sich eine einmalige Sensation nicht entgehen zu lassen und Zeugin eines schrecklichen Schauspiels zu werden? Dergleichen ereignet sich immer wieder. Unglücksfälle und Katastrophen üben eine magische Anziehungskraft aus. In dem Gefühl, nicht persönlich betroffen zu sein, werden Menschen dann zu Schaulustigen.
In diesem Fall jedoch könnte es eine noch andere Erklärung geben: die Rückwendung in die Vergangenheit. Diese mag so bedrückend und belastend gewesen sein, wie sie will. Angesichts einer Befreiung daraus und der damit verbundenen noch unbekannten Zukunft nimmt sie sich nicht selten als das kleinere Übel aus. Das Neue erscheint dann als Bedrohung, die das Alte, wenn auch zu Unrecht, verklären läßt. Doch dabei erstarrt der Mensch buchstäblich zur Salzsäule und verliert das Leben, das vor ihm liegt, aus den Augen.

Artikel vom 08.10.2005