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Fräulein Chen möchte
weiter im Hutong wohnen
Per Fahrrad auf die dörfliche Seite der Millionenmetropole Peking
Peking ist eine spröde Stadt. Mauern, wohin der Blick auch fällt. Grau sind sie, wie die Straßen und zuweilen der Himmel, wenn die Smogbelastung wieder einmal besonders stark ansteigt. Nicht alle Mauern sind mehr so unüberwindlich wie einst.
In der Verbotenen Stadt, dem Gelände des Kaiserpalastes, tummeln sich heute Touristen. Und wer sich mit dem Fahrrad auf den Weg macht, der wird in den Hutongs schnell feststellen, dass die Chinesen selbst ihre Mauern sprengen und das Leben nach draußen verlagern.
Hutongs - das sind jene Stadtviertel, die noch nicht vom kollektiven Bauwahn erfasst und für neue Hochhäuser geopfert wurden. Man findet sie überall, oft ganz unvermittelt, wenn man von einer geschäftigen Hauptstraße in eine Nebenstraße abbiegt.
Mit dem Fahrrad durch Peking - so erschließt sich diese Stadt am besten. Und auch, wenn solche Touren nicht im Programm von Reiseveranstaltern wie Studiosus stehen - wofür lässt die Reiseleiterin denn so großzügig Freizeit? Okay, das Hotelfahrrad ist viel zu klein, den Reifen mangelt es an Luft. Aber es ist Sonntag, der wenige Verkehr fließt ruhig - also nichts wie los!
Im Hutong Youqizuo scheint die Zeit stehen geblieben zu sein - oder doch nicht? Etwa 60 Jahre alt ist die Siedlung hinter dem Kaiserpalast, circa 100 Familien leben dort. Auf den ersten Blick scheint alles beim Alten. Herr Wang hat seine Singvögel auf die Straße gehängt, Fräulein Hu sammelt wie jeden Tag Plastikflaschen ein und ruft, wie weiland der billige Jakob, mit gellendem Singsang ihren Wunsch aus.
In einem Seitenweg parkt ein abenteuerliches Gefährt: Ob dieses Auto bessere Zeiten gesehen hat, mag bezweifelt werden. Offensichtlich aus irgendwelchen Teilen zusammengeschraubt, wirkt es wie ein Fossil. Ob wirklich alles mit vier Rädern, vier Sitzen und einem Motor die Bezeichnung Auto verdient?
Auftritt von Fräulein Chen: Die schicke junge Dame ist auch mit dem Fahrrad unterwegs, und an ihr manifestiert sich, dass China sich im Umbruch befindet. »Kann ich helfen?«, fragt sie angesichts des langnasigen Urlaubers, der wie ein Affe auf dem Schleifstein auf seinem zu kleinen Rad sitzt, in holperigem Englisch. Ja, es tut sich was im Reich der Mitte, man öffnet sich sichtbar dem Fremden! Und dann freut sie sich, dass sie ihre neuen Sprachkentnisse mal praktisch einsetzen kann.
Fräulein Chen erzählt von den Handwerkern, die im Hutong leben, von der Gemütlichkeit und Geborgenheit des Viertels, aber auch von Zukunftsängsten: »Hoffentlich wird Youqizuo nicht platt gemacht für eine anonyme Hochhausbebauung. Ich möchte nicht in diesen gesichtslosen Siedlungen leben. Aber Peking macht sich schick für die Olympischen Spiele 2008, und noch sind wir nicht soweit, dass junge Intellektuelle wie in Europa alte Stadtviertel für sich entdecken und mit neuem Leben füllen.«
Das hat Fräulein Chen im Fernsehen gesehen. Die urbane Schickeria im Hutong? Momentan noch schwer vorstellbar, dass dort, wo Schneider, Friseur und Schmied arbeiten, irgendwann Andenkenladen, Kunstgalerie und Internetcafé Einzug halten. Dann wäre auch die Funktion des Danwei kaum aufrecht zu erhalten.
Bildet der Hutong im geographischen Sinne die kleine, beschauliche Nachbarschaft, so ist die Danwei, kleinste Zelle des mächtigen Parteiapparates und damit der Verwaltungsstruktur Chinas, heute umso wichtiger. In einem Land, in dem Individualismus nach wie vor verpönt ist, weil er der konfuzianischen Tradition widerspricht, ist die Danwei aber auch ein Identifikationsmerkmal.
Die Danwei - das kann ein Industriebetrieb nebst seiner Umgebung sein, ein Krankenhaus, ein Shoppingcenter. Die Danwei sorgt für Arbeit, Wohnraum und Lebensmittel, Bildung, medizinische Versorgung und Freizeitgestaltung. Chinesen betrachten sich zuerst als Angehörige eines Danweis, dann als Chinesen, dann eventuell auch als Bewohner einer Stadt und ganz zuletzt, wenn überhaupt, als Individuum. Doch in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs, an dem zwangsläufig nicht alle teilhaben können, bilden sich Probleme wie Arbeitslosigkeit und soziales Elend, zumal immer mehr Menschen in die Städte drängen. Längst gibt es rund um Millionen-Metropolen auch Slumgürtel. Da ist vom Charme der Hutongs nichts mehr zu spüren, aber auch die Identifikation als Danwei fehlt.
Thomas Albertsen

Artikel vom 15.10.2005