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»Deutschland braucht wieder eine kraftvolle Politik, an der es seit Mai mangelt.«

Leitartikel
Poker um Kanzlerschaft

Hoher Preis
für das
Siegtor


Von Dirk Schröder
Aus der Defensive heraus kann man ein Spiel gewinnen, ja sogar Europameister werden. Das hat im vergangenen Jahr Otto Rehhagel mit seinen Griechen bewiesen. Doch ein solcher Erfolg kann schnell verblassen, wie die Ergebnisse der griechischen Fußballer in der Folgezeit gezeigt haben.
Ähnlich könnte es jetzt auch der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel ergehen. Sie und die Union haben sich immer mehr in die Defensive drängen lassen, damit sie erste Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland wird. Wenn auch der Poker um die Kanzlerschaft bis zum Sonntagabend noch einmal verlängert worden ist, ihr dürfte dieses Amt nicht mehr zu nehmen sein.
Die Union hat also das Siegtor geschossen. Vermeintlich, denn sie wird einen hohen Preis dafür bezahlen. Ohne weitreichende personelle Zugeständnisse an die SPD wird sie nicht ins Kanzleramt einziehen. Niemand sollte überrascht sein, wenn am Ende die Sozialdemokraten mehr Ministerien erhalten als CDU und CSU zusammen.
Spannend wird ja noch die Frage, was macht Bundeskanzler Gerhard Schröder? Mit seiner Strategie der vergangenen Wochen, die manchmal Züge von absurdem Theater hatte, söhnte er sich aber nicht nur mit seiner Partei aust. Nein, er sorgte zusammen mit dem fintenreichen SPD-Chef Franz Müntefering dafür, dass die Sozialdemokraten selbstbewusst der Union gegenüber getreten sind.
Sie haben dem Wahlvolk ziemlich erfolgreich suggeriert, dass sie doch eigentlicher Sieger des 18. September sind.
Nicht zuletzt das neueste ZDF-Politbarometer ist dafür ein Beleg. Zwar wünschen 47 Prozent Angela Merkel als Kanzlerin und nur 42 Prozent, dass Gerhard Schröder im Amt bleibt. Doch mehr als die Hälfte (56 Prozent) unterstützt den Vorschlag, dass jemand Drittes Kanzler wird. Dass die meisten keine konkreten Namen nennen können, muss niederschmetternd für die künftige Regierungschefin sein. Beunruhigen muss sie auch das Gerücht, Schröder wolle Vizekanzler werden und das Außenamt übernehmen. Merkel, ist sie erst einmal im Kanzleramt, muss aufpassen, dass sie nicht die Fäden wieder verliert, bevor sie sie überhaupt in den Händen hält.
Nach einem großen Ruck, der durch Deutschland geht, sieht das nicht aus. Deutschland aber braucht endlich eine kraftvolle Politik, an der es nicht erst seit Schröders Ruf nach Neuwahlen mangelt. Es bleibt zu hoffen, dass sich Union und SPD darauf besinnen und nicht nur auf Fehler lauern, die der Partner in der zu erwartenden Koalition macht, um daraus Nutzen zu ziehen.
Wenn Griechenland die Qualifikation zur WM nicht schafft, wäre dies bedauerlich, aber kein Beinbruch. Wenn Deutschland den Kampf um die Verringerung der Arbeitslosenzahlen, Auflösung des Reformstaus und Beseitigung des Finanzdesasters verliert, wäre dies eine Katastrophe. Bei aller Verteilung von Posten und Macht gerät dies zu häufig in Vergessenheit.

Artikel vom 08.10.2005