12.10.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Sie hatte ihn mit seiner Nike-Mütze und der Trainingsjacke skizziert, jedoch mit nackten Beinen, nur mit dem traditionellen Lendenschurz bekleidet. Sie fügte noch ein paar Pfützen hinzu, die unter seinen Füßen spritzten, und ein paar Jungen, die ihm folgten.

Sie trat zurück, um ihre Arbeit zu begutachten.
Viele Details gefielen ihr zwar nicht, aber er sah glücklich aus, wirklich glücklich, also stellte sie einen Teller unter die Tischdecke, öffnete das Gläschen mit Zinnoberrot und drückte ihr Siegel rechts in die Mitte. Sie stand auf, räumte den Tisch des Alten ab, holte ihre Zeichnung und legte sie vor ihn hin.
Er reagierte nicht.
Oje, dachte sie, da habe ich mir wohl einen Patzer geleistet.

Als seine Nichte aus der Küche kam, gab er ein langes, leidvolles Lamento von sich.
»Es tut mir leid«, sagte Camille, »ich dachte...«
Die Frau bedeutete ihr zu schweigen, holte eine Brille mit dicken Brillengläsern hinter der Theke hervor und schob sie unter die Mütze. Er beugte sich feierlich über das Bild und fing an zu lachen. Ein kindliches Lachen, kristallklar und fröhlich. Er weinte und lachte dann wieder, schaukelte hin und her, die Arme vor der Brust verschränkt.

»Er möchte mit Ihnen Sake trinken.«
»Gern.«
Sie holte eine Flasche, er brüllte, sie seufzte und verschwand in der Küche.
Sie kam mit einer anderen Flasche zurück, gefolgt vom Rest der Familie. Einer älteren Frau, zwei Männern um die Vierzig und einem Jugendlichen. Lachen, Rufe, Verbeugungen und Gefühlsausbrüche jeglicher Art. Die Männer klopften ihr auf die Schulter, und der Junge klatschte mit ihr ab, wie Sportler es tun.

Anschließend kehrten alle auf ihre Posten zurück, und die junge Frau stellte zwei Gläser vor sie hin. Der Alte prostete ihr zu und leerte sein Glas, bevor er es von neuem füllte.
»Ich warne Sie, er wird Ihnen sein ganzes Leben erzählen.«
»Kein Problem«, sagte Camille, »ohhh... ganz schön stark.«
Die junge Frau zog sich lachend zurück.

Jetzt waren sie allein. Der Alte schwatzte, und Camille lauschte ihm voller Hingabe und nickte nur, wenn er ihr die Flasche hinhielt.

Sie hatte Mühe, aufzustehen und ihre Sachen zusammenzupacken. Nachdem sie sich unzählige Male verbeugt hatte, um sich von dem Alten zu verabschieden, kam ihr die junge Frau an der Tür zu Hilfe und zog am Knauf, den sie seit geraumer Zeit unter albernem Gelächter unerbittlich drückte.
»Sie sind hier zu Hause, verstanden? Sie können zum Essen kommen, wann immer Sie wollen. Wenn Sie nicht kommen, wird er böse sein... Und traurig.«



Als sie zur Arbeit kam, war sie völlig betrunken.
Samia war ganz aufgeregt:
»He, hast du einen Typen kennengelernt?«
»Ja«, gab Camille verschämt zu.
»Ehrlich?«
»Ja.«
»Nee... Ist nicht wahr. Wie ist er? Süß?«
»Total süß.«
»Oh, cool... Wie alt?«
»Zweiundneunzig.«
»Quatsch nicht, du Nuß, wie alt?«
»He, Mädels... Wollt ihr euch mal bewegen!«
Die Josy zeigte auf das Zifferblatt ihrer Uhr.

Camille zog glucksend davon und verfing sich mit den Füßen im Schlauch ihres Staubsaugers.

9. Kapitel
Mehr als drei Wochen waren vergangen. Franck, der jeden Sonntag in einem Restaurant auf den Champs-ƒlysées Extraschichten schob, fuhr montags zu seiner Großmutter ans Krankenbett.

Sie befand sich mittlerweile in einem Reha-Zentrum, wenige Kilometer nördlich von Paris, und wartete seit Tagesanbruch auf seinen Besuch.
Er hingegen mußte sich den Wecker stellen. Er schlurfte wie ein Zombie in die Eckkneipe, trank zwei, drei Kaffee hintereinander weg, schwang sich aufs Motorrad und schlief auf dem schrecklichen schwarzen Kunstledersessel neben ihr wieder ein.

Wenn ihr Essenstablett kam, legte die alte Frau den Zeigefinger auf den Mund und deutete mit dem Kopf auf das große Baby, das ihr zusammengerollt Gesellschaft leistete. Sie bedachte ihn mit einem zärtlichen Blick und sorgte dafür, daß sein Oberkörper von der Jacke ganz bedeckt war.
Sie war glücklich. Er war da. Ganz da. Nur für sie.

Sie traute sich nicht, die Krankenschwester zu rufen, damit sie ihr Bett hochstellte, hielt die Gabel vorsichtig in der Hand und aß leise. Sie versteckte Dinge in ihrem Nachttisch, Brot, Käse und ein paar Früchte, die sie ihm geben wollte, wenn er wieder aufwachte. Anschließend schob sie das Tablett vorsichtig weg und verschränkte lächelnd die Hände vor dem Bauch.

Sie schloß die Augen und döste ein wenig vor sich hin, eingelullt in die Atemzüge ihres Jungen und Erinnerungen an die Vergangenheit. Sie hatte ihn schon so viele Male verloren. So viele Male. Ihr war, als hätte sie ihr Leben damit zugebracht, ihn zu suchen. Hinten im Garten, in den Bäumen, bei den Nachbarn, in den Ställen versteckt oder vor dem Fernseher sitzend, dann natürlich in der Kneipe und jetzt auf kleinen Zetteln, auf die er Telefonnummern geschrieben hatte, die niemals die richtigen waren.

Dabei hatte sie alles in ihrer Macht Stehende getan. Hatte ihn ernährt, umarmt, gestreichelt, beruhigt, gescholten, bestraft und getröstet, aber es hatte nichts genützt. Kaum konnte er laufen, der Kleine, nahm er Reißaus, und sobald er drei Barthaare hatte, war es vorbei. War er fort.

In ihren Träumen verzog sie mitunter das Gesicht. Ihre Lippen zitterten. Zuviel Kummer, zuviel Elend und so viel Leid. Es hatte so schwere Zeiten gegeben, so schwere Zeiten... Aber nein, daran durfte sie nicht denken, außerdem wurde er wach, die Haare zerzaust, die Wange voller Striemen von den Sesselnähten:
»Wie spät ist es?«
»Gleich fünf.«
»Oh Scheiße, so spät schon?«
»Franck, warum sagst du immer Scheiße?«
»Scheibenkleister, so spät schon?«
»Hast du Hunger?«
»Es geht, eher Durst. Ich dreh mal ne Runde.«
Vorbei, dachte die alte Dame, vorbei.
»Gehst du?«
»Aber nein, ich geh noch nicht, Sch... Scheibenkleister!«
»Wenn du einen rothaarigen Mann im weißen Kittel siehst, könntest du ihn fragen, wann ich hier herauskomme?«
»Ja, ja«, sagte er und verschwand durch die Tür.
»Ein Großer mit einer Brille und einem...«
Er war bereits auf dem Flur.

»Und?«
»Ich hab ihn nicht gesehen.«
»So?«
»Komm schon, Omi«, sagte er sanft zu ihr, »du wirst doch nicht schon wieder heulen?«
»Nein, aber ich... Ich denke an meine Katze, an meine Vögel... Und außerdem hat es die ganze Woche geregnet, und ich mache mir Sorgen um meine Gartengeräte. Da ich sie nicht weggeräumt habe, werden sie ganz bestimmt rosten.«
»Ich fahre auf dem Rückweg vorbei und packe sie weg.«
»Franck?«
»Ja?«
»Nimm mich mit.«
»He! Nicht schon wieder. Ich kann nicht mehr.«
Sie fing sich wieder:
»Die Geräte...«
»Was?«
»Sie müßten mit Rinderfett eingerieben werden.«
Er sah sie an und machte dicke Backen:
»Wenn ich Zeit habe, okay? Gut. Das ist noch nicht alles, wir zwei haben noch unsere Sportstunde vor uns. Wo ist denn dein Wägelchen?«
»Ich weiß nicht.«
»Omi.«
»Hinter der Tür.«
»Komm schon, alte Frau, ich werde dir Vögel zeigen!«
»Pfff, hier gibt es keine. Hier gibtÕs nur Geier und Aasgeier.«
Frank lächelte. Er mochte den bösen Humor seiner Großmutter.

»Alles in Ordnung?«
»Nein.«
»Wo hapertÕs noch?«
»Ich habe Schmerzen.«
»Wo?«
»Überall.«
»Das kann nicht sein, das stimmt nicht. Zeig mir genau die Stelle.«
»Ich habe Schmerzen im Kopf.«
»Das ist normal. So gehtÕs uns allen. Los, mach schon, zeig mir lieber deine Mitpatientinnen.«
»Nein, kehr um. Die will ich nicht sehen, die kann ich nicht ausstehen.«
»Der da vorne, der Alte mit dem Sakko, der ist doch nicht übel, oder?«
»Das ist kein Sakko, Dummkopf, das ist sein Schlafanzug, und außerdem ist er stocktaub... und ein eitler Gockel.«

Sie setzte einen Fuß vor den anderen und zog über ihre Mitpatienten her. Alles war in Ordnung.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 12.10.2005