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Er beugte sich erneut über seinen Tee.
»So wuchs Ta in der Sorglosigkeit, der Freude und der Gewißheit heran, eines Tages ebenfalls ein großer Künstler zu werden. Doch ach, als er achtzehn war, übernahmen die Mandschu die Macht von den Ming. Die Mandschu waren grausame und brutale Menschen, die Maler und Schriftsteller nicht mochten. Folglich untersagten sie ihnen zu arbeiten. Das war das Schlimmste, was man ihnen antun konnte, wie du dir sicher vorstellen kannst. Die Familie von Chu Ta sollte keinen Frieden mehr erleben, und sein Vater starb vor Verzweiflung. Von einem Tag auf den anderen tat sein Sohn, der ein Lausebengel war und gerne lachte, sang, Dummheiten erzählte und lange Gedichte aufsagte, etwas Unglaubliches. He, wer kommt denn da?« fragte Mister Doughton und begann absichtlich eine lange einfältige Unterhaltung mit seiner Katze, die sich auf die Fensterbank gesetzt hatte.
»Was tat er?« flüsterte sie schließlich.

Er verbarg sein Lächeln in seinem buschigen Bart und fuhr fort, als wäre nichts gewesen:
»Er tat etwas Unglaubliches. Etwas, das du nie erraten wirst. Er beschloß, für immer zu schweigen. Für immer, hörst du? Kein einziges Wort sollte ihm je wieder über die Lippen kommen! Er war angewidert vom Verhalten seiner Mitmenschen, die sich von ihren Traditionen und ihrem Glauben lossagten, um bei den Mandschu gut angesehen zu sein, und wollte nie wieder das Wort an sie richten. Sollten sie zum Teufel gehen! Alle! Diese Sklaven! Diese Feiglinge! Er schrieb das Wort Stumm auf seine Haustür, und wenn gewisse Leute dennoch versuchten mit ihm zu reden, entfaltete er vor seinem Gesicht einen Fächer, auf den er ebenfalls Stumm geschrieben hatte, und wedelte damit in alle Richtungen, um sie zu vertreiben.«

Das kleine Mädchen hing an seinen Lippen.

»Das Problem ist, daß niemand leben kann, ohne sich mitzuteilen. Niemand. Das ist unmöglich. Also hatte Chu Ta, der wie jedermann, wie du und ich beispielsweise, viel zu erzählen hatte, eine geniale Idee. Er ging in die Berge, weit weg von all den Menschen, die ihn verraten hatten, und fing an zu zeichnen. Von nun an wollte er sich auf diese Weise mitteilen, mit dem Rest der Welt kommunizieren: mit Hilfe seiner Zeichnungen. Willst du sie sehen?«
Er holte ein großes schwarzweißes Buch aus seiner Bibliothek und legte es vor sie hin:
»Sieh nur, wie schön sie sind. Wie einfach. Nur ein Strich, und schon hast du... eine Blume, einen Fisch, einen Grashüpfer... Sieh dir diese Ente an, wie verärgert sie aussieht, und diese Berge dort, im Nebel. Sieh nur, wie er den Nebel gezeichnet hat, als wäre er nichts, nur Leere. Und diese Küken hier? Sie wirken so zart, daß man Lust hätte, sie zu streicheln. Siehst du, seine Tusche ist zart wie ein Flaum. Seine Tusche ist sanft.«
Camille lächelte.

»Willst du, daß ich dir beibringe, so zu zeichnen?«
Sie nickte.
»Willst du, daß ich dir das beibringe?«
»Ja.«
Als es soweit war, als er ihr gezeigt hatte, wie sie den Pinsel halten mußte, und ihr das mit dem so wichtigen ersten Strich erklärt hatte, blieb sie einen Moment ratlos sitzen. Sie hatte nicht ganz verstanden und glaubte, sie müßte die ganze Zeichnung in einem Zug ausführen, ohne die Hand hochzunehmen. Das war unmöglich.

Sie dachte lange über ein Motiv nach, sah sich um und streckte den Arm aus.
Sie machte einen langen, geschwungenen Strich, einen Buckel, eine Spitze, eine weitere Spitze, zog den Pinsel in einem langen Schwung nach unten und kehrte zum ersten Bogen zurück. Da ihr Lehrer nicht zusah, nutzte sie die Gelegenheit, um ein wenig zu schummeln, nahm den Pinsel hoch und fügte einen großen schwarzen Klecks und sechs kleine Striche hinzu. Sie wollte lieber ungehorsam sein, als eine Katze ohne Schnurrbart zu malen.
Malcolm, ihr Modell, schlief immer noch auf der Fensterbank, und Camille, getrieben von dem Wunsch nach Realitätstreue, beendete ihre Zeichnung mit einem schmalen Viereck um die Katze.

Anschließend stand sie auf, um die Katze zu streicheln, und als sie sich umdrehte, sah sie, daß ihr Lehrer sie mit sonderbarem Gesichtsausdruck, nahezu böse anstarrte:
»Hast du das gemacht?«
Er hatte ihrer Zeichnung also angesehen, daß sie den Pinsel mehrmals hochgenommen hatte. Sie zog eine Grimasse.
»Hast du das gemacht, Camille?«
»Ja.«
»Komm her zu mir, bitte.«
Sie ging zu ihm, etwas beschämt, und setzte sich neben ihn.

Er weinte:
»Es ist großartig, was du da gemacht hast, weißt du das... Großartig. Man hört sie schnurren, deine Katze. Ach, Camille...«
Er hatte ein großes Taschentuch voller Farbkleckse hervorgeholt und schneuzte sich geräuschvoll.
»Hör mir zu, kleines Mädchen, ich bin bloß ein alter Mann und ein schlechter Maler obendrein, aber hör mir gut zu. Ich weiß, daß das Leben für dich nicht einfach ist, ich kann mir vorstellen, daß es zu Hause nicht immer schön ist, ich habe auch das mit deinem Papa gehört, aber... Nein, nicht weinen. Hier, nimm mein Taschentuch. Aber eins muß ich dir sagen: Menschen, die aufhören zu reden, werden verrückt. Chu Ta zum Beispiel, das habe ich dir vorhin nicht erzählt, ist verrückt geworden und auch sehr unglücklich. Sehr, sehr unglücklich und sehr, sehr verrückt. Erst im hohen Alter hat er wieder Frieden gefunden. Du wirst nicht warten, bis du so alt bist, nicht wahr? Versprich mir das. Du bist sehr begabt, weißt du das? Du bist die begabteste Schülerin, die ich je hatte, aber das ist nicht der Grund, Camille. Das ist nicht der Grund. Die Welt heutzutage ist nicht mehr so wie zu Chu Tas Zeiten, und du mußt wieder anfangen zu sprechen. Du mußt, verstehst du? Sonst sperren sie dich zusammen mit echten Verrückten ein, und kein Mensch wird je deine schönen Zeichnungen sehen.«

Sie wurden durch die Ankunft ihrer Mutter unterbrochen. Camille stand auf und teilte ihr mit rauher Stimme und in abgehackten Worten mit:
»Warte auf mich. Ich bin noch nicht fertig.«


Eines Tages, vor nicht allzu langer Zeit, erhielt sie ein Päckchen, das ungeschickt verschnürt und von einem kleinen Brief begleitet war:
Guten Tag,
ich heiße Eileen Wilson. Mein Name sagt vielleicht Ihnen nichts, aber ich war die Freundin von Cecil Doughton, der ihr Mallehrer früher war. Ich habe das Traurige, Ihnen mitzuteilen, daß Cecil uns verlassen hat vor zwei Monaten. Ich weiß, daß Sie es zu schätzen wissen, daß ich Ihnen sage (entschuldigen Sie mein schlecht Französisch), daß wir ihn in seinem Region Dartmoor beerdigt haben, die er sehr viel geliebt hat, in einem Friedhof, der ein schönen Blick hat. Ich habe seine Pinsel und Farben mit ihm in die Erde getan.
Vor dem Sterben hat er mich gebeten, Ihnen dieses zu geben. Ich glaube, er war glücklich, wenn sie beim Benutzen an ihn denken.
Eileen W.

Camille konnte die Tränen nicht zurückhalten, als sie die chinesischen Zeichenutensilien ihres alten Lehrers sah, jene, die sie soeben benutzt hatte.

*
Neugierig kam die Bedienung an den Tisch, um die leere Tasse abzuräumen und dabei einen Blick auf die Tischdecke zu werfen. Camille hatte darauf eine Vielzahl von Bambusrohren gezeichnet. Stämme und Blätter waren am schwierigsten zu zeichnen. Ein Blatt, meine Kleine, ein einfaches Blatt, das sich im Wind bewegt, forderte seinen Meistern Jahre der Arbeit ab, ein ganzes Leben bisweilen. Spiel mit den Kontrasten. Du hast nur eine Farbe zur Verfügung, und doch kannst du alles darstellen. Konzentriere dich besser. Wenn du willst, daß ich dir eines Tages dein Siegel entwerfe, mußt du mir Blätter machen, die deutlich leichter sind als diese.

Das schlechte Papier wellte sich und saugte die Tinte viel zu schnell auf.

»Darf ich?« fragte die junge Frau.
Und hielt ihr ein Paket frischer Tischdecken hin. Camille wich zurück und legte ihre Arbeit auf den Boden. Der Alte stöhnte, die Bedienung fuhr ihn an.
»Was sagt er?«
»Er schimpft, weil er nicht sehen kann, was Sie gemacht haben.«
Sie fügte hinzu:
»Er ist mein Großonkel. Er ist gelähmt.«
»Sagen Sie ihm, das nächste ist für ihn.«
Die junge Frau kehrte zur Theke zurück und richtete einige Worte an ihn. Er beruhigte sich und betrachtete Camille voller Strenge.

Sie fixierte ihn lange, zeichnete dann über die ganze Tischdecke einen vergnügten kleinen Mann, der ihm ähnelte und der an einem Reisfeld entlanglief. Sie war noch nie in Asien gewesen, improvisierte aber im Hintergrund einen Berg im Nebel, Pinien, Felsen und sogar Chu Tas kleine Hütte auf einem Vorsprung.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 11.10.2005