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»So langsam werden die Socken knapp«: Der Freiburger Muße-Radler Martin Kissel (47) an seinem mobilen Kleiderschrank.

Einfach mal quer durch Deutschland. . .

Der Freiburger Journalist Martin Kissel und sein Selbstversuch / Stippvisite in Brackwede

Von Markus Poch
(Text und Fotos)
Freiburg/Brackwede (WB). »Mit 60 Sachen bin ich aus der Kurve getragen worden und dann 300 Meter tief in den Abgrund gestürzt. . .« - Martin Kissel legt seine hohe Stirn in Falten: »Gott sei Dank, dass das nur ein böser Traum war«, sagt der 47-jährige ARD-Hörfunkreporter aus Freiburg. Ein Abgang dieser Art hätte die positive Bilanz seines ungewöhnlichen Selbstversuches deutlich geschmälert. . .

Martin Kissel (1,83 Meter, 88 Kilo) erfüllte sich gerade einen langgehegten Herzenswunsch: Er fuhr mit seinem Fahrrad brutto drei Wochen lang quer durch Deutschland, einmal vom Breisgau über Brackwede bis nach Hamburg - ohne Spezialausrüstung, ohne Trainingsvorbereitung, sondern einfach so: aus purer Neugier an den deutschen Landen und für eine Radio-Reportage. »Bis zum Hamburger Rathaus waren es genau 1 595,86 Kilometer«, strahlt Kissel, der inzwischen wieder im Funkhaus in Freiburg sitzt - voller spezieller Eindrücke, vier Kilogramm leichter und mit stahlharten Beinen.
Dort produziert er täglich Comedy und andere Beiträge fürs deutsche Radioprogramm. Mit seinen »Holzkobb«-Sprachwitzen machte er sich in Süddeutschland einen Namen, sein humoriger »Tagesschau-Remix« ist auf WDR 2 auch regelmäßig bei uns zu hören. Aus Respekt vor seinem Sprachgefühl heißt der Mann in der Branche und bei Freunden ehrfurchtsvoll »Der große Kissel« (DgK).
Am 5. September 2005 ließ er alles hinter sich und sattelte sein zehn Jahre altes 21-Gang-Tourenrad der Marke »Kirsch«, das ihn sonst jeden Tag bei jedem Wetter zur Arbeit bringt. Dann kramte er seine angeschimmelten Satteltaschen aus dem Keller und fuhr los - nicht in die Mongolei, nach Südafrika, Chile, Borneo oder in die Südsee, wo er überall (allerdings ohne Fahrrad) schon gewesen ist. Nein, diesmal ging es schlicht und einfach durch Deutschland. »Ich bin schon so viel rumgekommen in der Welt, aber von meiner Heimat kenne ich fast gar nichts«, erklärt Martin Kissel. »Und auf dem Rad "erfährt" man die Gegend einfach besser.« Das hatte er bereits 1995 festgestellt, als er auf seinem Drahtesel durch New York und die Bronx radelte.
Seine Deutschlandtour sollte kein Kraftakt unter Zeitdruck werden, sondern eine entspannende Erlebnisfahrt mit Muße für Land und Leute. Etwa 100 Kilometer pro Tag hatte er sich vorgenommen, höchstens sechs bis sieben Stunden reine Fahrzeit - auf offiziellen Radwegen und eigenen Strecken, die er mittels Navigationssystem GPS und topographischen Karten täglich absteckte. So ging es zunächst von Freiburg nach Baden-Baden.
»Der Rheintalradweg ist miserabel beschildert«, fand Kissel schnell heraus. »Und die Leute, die du dort nach dem Weg fragst, wissen gar nichts. Erst wenn sie von Dir erfahren haben, wo der Rhein ist, können sie dir erklären, wo der Rhein ist. . .« Natürlich wusste er sich trotzdem zu helfen und fuhr weiter durchs Elsass bis nach Dahn, seinen Geburtsort. »Das war die schönste Strecke überhaupt - ein sehr guter Weg mit Wäldern, Wiesen und kleinen Städten immer im Wechsel - so eindrucksvoll habe ich meine Heimat noch nie gesehen.«
Im Gepäck hatte er drei T-Shirts, fünf Unterhosen, fünf Paar Socken, Regensachen, ein leichtes Fleece und einen Satz Funktionskleidung. »Ein einziges Hemd reicht völlig aus«, beteuert Kissel. »Es lüftet permanent so durch, dass es selbst bei größter Anstrengung keinen Körpergeruch annimmt.« Gegen den Wolf zwischen den Beinen halfen Melkfett und Leukoplast zum Abkleben strapazierter Stellen. Und Trinkwasser? - »Natürlich immer am Mann!«
Bei herrlichem Spätsommerwetter fuhr der Große Kissel in kurzen Hosen und mit leichtem Sonnenbrand weiter über Saarbrücken und Trier bis nach Koblenz, zuletzt immer an der Mosel entlang. Er übernachtete bei Freunden, in Jugendherbergen oder »Bett & Bike«-Unterkünften. In Koblenz wurde er erstmals richtig nass, und es war mal wieder eine Jugendherberge dran, »doch leider hatten die letzten 600 Meter eine Steigung von 18 Prozent. Da wird man schon mal ein bisschen müde.« Die Kraft für die nächste Etappe holte er sich aus einem deftigen Frühstück: »Dann brauche ich den ganzen Tag nichts mehr. Und gegen 17 Uhr, wenn das Wetter gut ist, zelebriere ich immer ein Hefeweizen. Aber nur bei Sonnenschein - im Schatten trinke ich kein Weißbier.«
Von Koblenz fuhr er nach Köln, »die Stadt der Glasscherben und Einbahnstraßen«, besuchte Bekannte, und weiter ging's über Duisburg bis nach Herne. »Da ist die Beschilderung ein Desaster: verblasste, hellgraue Schrift auf einem ehemals weißen Untergrund! Wer soll das im Vorbeifahren lesen können. . .?« Doch irgendwie fand er die Strecke - eine schier endlose Schotterpiste entlang des Dortmund-Ems-Kanals. Mit Musik aus dem MP3-Player bekämpfte er die Langeweile. In Dortmund quartierte sich Kissel bei einem Komiker-Kumpel ein, dem Kabarettisten Fritz Eckenga, und ging mit ihm abends ins Westfalenstadion zum Bundesligaspiel Dortmund gegen Bielefeld.
Kurz vor Münster, der Kilometerzähler hatte gerade die 1 000 angezeigt, verabschiedete sich der Mantel seines Vorderrades - die erste und einzige Panne bis Hamburg. Mit neuem Gummi strampelte der Große Kissel am folgenden Tag durch Gütersloh (»Da hängen zwar viele Schildchen, aber trotzdem fährst du dreimal im Kreis. . .«). Längst hatte er von seiner Ursprungsidee Abstand genommen, aus der Reise eine Hörfunkreportage zu machen. »Irgendwann sagte mir eine innere Stimme: Genieß das einfach, brenn' alle Eindrücke auf Deine Festplatte und in Dein Herz, und gut ist es.«
Bei Kilometer 1 114,84 und kurz vor Sonnenuntergang rollte der Große Kissel schließlich auf den Brackweder Kirchplatz. Zu seiner Verwunderung meisterte er diese Etappe trockenen Hauptes, obwohl er Bielefeld als klassisches Regenloch kennt. »Aber die Ostwestfalen kennen den Weg«, staunte er über die Auskunft eines freundlichen Rentners: »Wissen Sie was, junger Mann: Ich zeige Ihnen zuerst, wo es ein gutes Weizenbier gibt und dann, wie sie weiter fahren müssen!«
Nach einer Nacht bei Freunden startete er durch in Richtung »Herforder Karpaten« und weiter zu einem »kräftezehrenden Höllenritt 180 Kilometer die Weser hinab«, um in Bremen zu begreifen, dass es ungeschickt war, unmittelbar nach einem Heimspiel des SV Werder am Weserstadion vorbei zu radeln. . . Und irgendwann, nach gut drei Wochen, einem Abstecher nach Cuxhaven und etlichen Kilometern an der Elbe, kam Hamburg in Sicht. Dort stieg er nach kurzem Aufenthalt erschöpft aber glücklich in den ICE zurück nach Freiburg.
»Ich kann eine solche Reise nur jedem ans Herz legen«, sagt der Große Kissel heute. »Das ist problemlos zu schaffen. Aber ich habe gelernt, dass kürzere Tagesetappen bis 60 Kilometer besser sind. Man braucht mehr Zeit, die Dinge zu entdecken. Und wenn's irgendwo schön ist: einfach mal aus dem Sattel steigen und gucken - das macht die Sache noch interessanter.« Die sehr positive Erfahrung hat den Freiburger Witzemacher in seiner Absicht gestärkt, demnächst mal quer durch Neuseeland zu radeln - ganz gemütlich natürlich. . .

Artikel vom 08.10.2005