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40 Jahre altern in einer halben Stunde

Für »Reise nach Reims« verwandeln Maskenbildner Künstler in hinfällige Altenheimbewohner


Von Burgit Hörttrich und
Carsten Borgmeier (Fotos)
Bielefeld (WB). »Ich hoffe, ich bin besser in Form, wenn ich wirklich so um die 80 bin,« meint Mikael Babajanyan, als er in den Spiegel schaut. Aus dem schwarzhaarigen Sänger ist ein hinfällig wirkender Greis mit grauen Strähnen, tiefen Falten um Mund und Nase und zahllosen geplatzten Äderchen geworden. Dazu hat ihn Ute Köring, Leiterin der Maskenbildnerei des Theater Bielefeld in einer guten halben Stunde gemacht - für seine Rolle in der Rossini-Oper »Die Reise nach Reims«.
Während Babajanyan schon einmal einen alten Mann auf der Bühne verkörpert hat, ist das Altwerden um Jahrzehnte in 30 Minuten für die blonde Sängerin Victoria Granlund aus Schweden eine völlig neue Erfahrung. Sie habe sich dennoch nicht erschrocken, als sie sich zum ersten Mal in Maske im Spiegel gesehen habe, sagt sie: »Weil wir so lange geprobt haben, seelisch vorbereitet waren.« Es mache Spaß, sei aber auch eine Herausforderung, meinen beide. Schließlich dürfen sie auf der Bühne der Rudolf-Oetker-Halle niemals vergessen, dass sie Menschen darstellen, die im Altersheim leben. Dorthin nämlich hat Regisseur Nicholas Broadhurst die Handlung der Oper verlegt. Das gesamte Ensemble inklusive des Chores und der Statisterie verwandelt sich von Künstlern in den »besten« Jahren in Senioren, die sich nur noch mit Gehhilfe oder im Rollstuhl fortbewegen können. »Die Maske hilft dabei, sich in die Rolle hinein zu versetzen,« betont Victoria Granlund.
Aus der attraktiven jungen Frau eine Seniorin mit tiefen Augenschatten und faltiger Haut zu machen, das ist für Ute Köring auch eine Herausforderung. Die Expertin meint: »An den Hälsen, da erkennt man, dass man junge Menschen vor sich hat - wenn man genau hinschaut, natürlich nur.« Victoria Granlunds lange Haare werden festgesteckt, bevor Ute Köring mit Puder und Schminke zu arbeiten beginnt. Die Perücke aufzusetzen ist der letzte Schritt der Verwandlung. Mikael Babajanyan dagegen muss gleich zu Beginn seiner Verwandlung eine Vinyl-Glatze wie eine Badekappe überstreifen: »Darunter gerät man ganz schön ins Schwitzen.« Ute Köring verwendet nicht nur hochwertige Schminke, um Allergien bei den Künstlern zu vermeiden, sondern auch für die »Kunst-Glatzen« einen Kleber, der normalerweise in der Medizin Anwendung findet. Wenn »Haare« oder »Glatze« aber gar nicht halten wollen, kommt Mastix zum Einsatz. Die Maskenbildnerinnen beginnen gut eineinhalb Stunden vor Vorstellungsbeginn mit ihrer Arbeit, zwischen den Auftritten müssen sie gelegentlich nachbessern. Die Rückverwandlung vom Altenheimbewohner zum agilen, jungen Künstler geht bedeutend schneller. Mikael Babajanyan: »Das mache ich selbst, das geht ruckzuck.«
Die »Zeitreise« ins Alter nehmen die Sänger mit Humor, Victoria Granlund und Mikael Babajanyan meinen jedoch: »Ich habe mir nie vorstellen können, wie ich in 30, 40 Jahren aussehen könnte. . .«
Die nächsten Vorstellungen der »Reise nach Reims« sind am 16., 19., 26. und 30. Oktober.

Artikel vom 07.10.2005