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Schrei aus der Schießbude

Kapitän Oliver Kahn: verzweifelt, entnervt und sauer

Istanbul (dpa). Oliver Kahn hatte wieder einmal einen dicken Hals. Der Nationaltorhüter tobte und schrie auf dem Platz. Schon nach 30 Minuten winkte er bei seinem Kapitäns-Comeback entnervt vom Chaos vor seinem Tor ab.

Verzweifelt warf sich der Team-Senior den türkischen Angreifern entgegen, aber nur in Latte und Torpfosten fand der 36-Jährige in Istanbul Verbündete. Das 1:2 gegen die Türkei war ein weiterer Albtraum für Kahn, dessen Zweikampf mit Jens Lehmann um die deutsche Nummer 1 bei der Fußball-Weltmeisterschaft zu einem Schießbuden-Duell gerät.
»Ich habe wirklich versucht, zusammen mit dieser jungen Abwehr alles in meiner Macht mögliche zu tun«, stöhnte Kahn nach seinem 82. Länderspiel.
Sowohl beim Nachschuss von Halil Altintop (25.) als auch beim Abstauber-Tor des Dortmunder Länderspiel-Debütanten Nuri Sahin (89.) ließen die Kollegen ihn schmählich im Stich. Kahns »vordringliches Ziel«, gegen den WM-Dritten von 2002 endlich wieder einmal zu Null zu spielen, scheiterte kläglich. »Da braucht man nicht groß zu reden, das war nichts«, kommentierte Kahn, den persönlich keine Schuld an der Niederlage traf. Immer wieder hatte er seine Teamkollegen während der 90 Minuten lautstark zu mehr Gegenwehr aufgefordert. »Macht doch mal endlich Feuer«, schrie er vergeblich über den Platz.
Nach dem Duschen versuchte Kahn seinen Ärger - so gut es ging - herunterzuschlucken. »Dass es Rückschläge gibt auf dem Weg zu großen Zielen, ist für mich nichts Neues«, meinte er nachsichtig. Das Ziel WM-Titel zu korrigieren, lehnte er auf dem Weg zum Mannschaftsbus mit einem knappen »nein« ab. »Wenn man viele junge Spieler dabei hat, die ihre Erfahrungen machen müssen, muss man immer mit solchen Spielen rechnen«, sagte Kahn.
Alt gegen jung - diesem Konflikt wollte Kahn jedoch ganz rasch einen Riegel vorschieben. »Ich lasse mir nichts in den Mund legen. Wir alle sind als Mannschaft gefordert und wir haben insgesamt nicht das gebracht, was wir uns vorgenommen haben; nicht junge Spieler, alte Spieler oder sonst irgendetwas.« Ob es vom Bundestrainer richtig gewesen sei, in der Abwehr auf einen Routinier wie Christian Wörns zu verzichten, wollte er nicht öffentlich nicht debattieren: »Das müssen wir in Ruhe besprechen.«
Kahn irritierte insbesondere die fehlende Courage der deutschen Elf. »Ich weiß nicht, wovor wir Angst hatten. Das Stadion war nicht einmal zur Hälfte gefüllt. Die Türken haben eine gute Mannschaft, aber keine, vor der wir in Ehrfurcht erstarren müssen«, klagte er.
Kahn sieht akuten Handlungsbedarf - ähnlich wie nach dem 0:2 in der Slowakei, als er vor dem heimischen Fernseher zuschauen durfte, wie sein Rivale Lehmann ebenfalls hilflos im Tor stand.
Gegen China soll nun im nächsten Testspiel am Mittwoch in der Hamburg (20.30 Uhr/ARD) alles wieder gut gemacht werden. Kapitän Kahn nimmt sich selbst und die Mannschaft in die Pflicht: »Ich erwarte eine große Reaktion.«

Artikel vom 10.10.2005