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Als Optimist
Klinsmann sein Lächeln verlor

Der Trainer hält am WM-Ziel fest

Istanbul (dpa). So sauer und laut war Jürgen Klinsmann noch nie. Aber vom Titelgewinn als dem großen Weltmeisterschafts-Ziel 2006 will er trotz der erneuten Ernüchterung und des aufkommenden Gegenwindes aus der Bundesliga nicht einen Millimeter abweichen.

Als der Bundestrainer nach dem entlarvenden 1:2 (0:1) in der Türkei gestern das Charter-Flugzeug nach Hamburg bestieg, wo am Mittwoch die Wiedergutmachung gegen China ansteht, hatte der Daueroptimist erstmals seit seinem Amtsantritt sein Lächeln verloren. »Das war gar nichts«, wetterte Klinsmann mit geballter »Faust in der Tasche« besonders über die desaströse erste Spielhälfte von Istanbul.
Das Personal hatte fast geschlossen die Vorgaben seines Chefs ignoriert und war nur durch die Großzügigkeit der Gastgeber einer noch größeren Blamage entgangen. »Da platzt einem schon mal ein bisschen der Kragen«, verriet Klinsmann.
In der Pause hatte der Bundestrainer seinem Ärger lautstark Luft gemacht, nach der zweiten Auswärtspleite nacheinander diskutierte die sportliche Leitung noch lange die Ursachen für den erschreckenden Auftritt am Bosporus. »Natürlich ist so eine Nacht kurz, man macht sich viele Gedanken«, berichtete Klinsmann gestern. »Ratlos waren wir nicht - aber sauer«, beschrieb Assistent Joachim Löw die Stimmungslage.
Acht Monate vor dem WM-Start wird immer deutlicher, dass Klinsmann besonders in der Schulung seiner Azubi-Abwehr die Zeit fehlt. In fremden Stadien ist die Selbstsicherheit völlig verloren gegangen. Gegen ihre Bundesliga-Kollegen Halil Altintop (Kaiserslautern) und Yildiray Bastürk (Hertha) waren Patrick Owomoyela und Lukas Sinkiewicz auch deshalb völlig überfordert, weil im Mittelfeld die Routiniers Torsten Frings und Bernd Schneider ihre Abwehrarbeit sträflich vernachlässigten. »Wir hatten große Probleme in der Abstimmung im Mittelfeld sowie zwischen Mittelfeld und Abwehr. Bastürk konnte 30 Minuten machen, was er wollte«, analysierte Klinsmann.
Nur Lukas Podolski sowie nach der Pause Sebastian Deisler und Oliver Neuville, der in seinem 50. Länderspiel das späte 1:2 markierte, strahlten in Ansätzen jene Entschlossenheit aus, die Klinsmann eingefordert hatte. »Wir sind insgesamt zu ängstlich und lethargisch aufgetreten. Wir haben dann in der Kabine Tacheles geredet«, erklärte Kahn, der sich trotz persönlich guter Form den motivierten Bundesliga-Kollegen Halil Altintop (25.) und Nuri Sahin (89.) geschlagen geben musste.
Klinsmann kündigte bereits wenige Stunden nach der Partie weitere Analysen an, »damit so etwas nicht wieder vorkommt«. Er hält aber am Ziel WM-Titel fest. »Das Ziel zu korrigieren wäre fatal. Dann würden wir der Mannschaft zeigen, dass wir nicht an sie glauben. Aber wir glauben an sie.«
Der Bundestrainer muss sich auch verstärkt gegen Gegenwind aus der Bundesliga wehren. »Es beginnt so ein leichtes Murren, da muss er schleunigst das Gespräch suchen«, warnte Franz Beckenbauer. Klinsmann werde langsam dahinter kommen, angebotene Hilfe anzunehmen. Der »Kaiser« verlangt jedoch auch von der Liga ein Ende aller Diskussionen: »Was man jetzt am wenigsten braucht, ist, dass wir uns selbst das Leben schwer machen.« Klinsmann beobachtet die Situation noch gelassen: »Ich kann ein Murren in der Bundesliga nicht ausmachen.«
Dafür schlug Fenerbahce Istanbuls Trainer Christoph Daum scharfe Töne an: »So habe ich größte Bedenken. Das waren in der ersten Halbzeit nur Einzelspieler, das war keine Mannschaft. Mit Begeisterung allein kann man auf Dauer keine Erfolge erzielen.«

Artikel vom 10.10.2005