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Union und SPD durchschlagen
Knoten für eine große Koalition

Beim heutigen Spitzengespräch müssen noch dicke Bretter gebohrt werden

Von Ulrich Scharlack
Berlin (dpa). Es ist nun doch niemand vorzeitig vom Tisch aufgestanden. Beide Seiten haben zwei Stunden miteinander geredet. Und so plötzlich wie unerwartet wird gestern Nachmittag sogar deutlich, dass in dieser dritten Sondierungsrunde möglichlicherweise ein Durchbruch im zweiwöchigen Machtpoker gelungen ist.

Die Spitzen von Union und SPD haben den Knoten für eine große Koalition durchschlagen. Unions-Kanzlerkandidatin Angela Merkel (CDU) erschien gemeinsam mit CSU-Chef Edmund Stoiber um 16.27 Uhr als erste auf der Fraktionsebene des Reichstags, wo Fernsehteams und Journalisten auf Statements warteten. Merkels ernste Miene ließ eigentlich nichts Gutes erwarten für den Fortgang der Gespräche. Aber schon ihre ersten Worten ließen erkennen: Das Eis war gebrochen. Merkel sprach davon, dass man inhaltlich eine »gemeinsame Basis« gefunden habe.
Wichtiger noch war die dann folgende Aussage. Merkel kündigte zur »Klärung der anderen Fragen« ein Spitzengespräch mit der SPD-Führung an, das »zeitnah« erfolgen solle. Dort werde die Kanzler-Frage, aber auch »andere personelle Fragen« geklärt werden, fügte sie hinzu. Stoiber nickte. Er sei optimistisch, dass schon kommende Woche konkrete Koalitionsverhandlungen beginnen. Bevor sie sich wegdrehte, stellte Merkel fest: »Ich würde diesen Tag eher als einen guten Tag einordnen.«
Dennoch blieb für einige Minuten Ungewissheit. Würden SPD-Chef Franz Müntefering und Bundeskanzler Gerhard Schröder das Ergebnis anders darstellen? Müntefering redete lange, sprach von inhaltlichen Gemeinsamkeiten und auch davon, dass eine Föderalismusreform das erste Projekt sein könne, das eine große Koalition beschließe.
Den entscheidenden Part überließ Müntefering Schröder - dem Mann, der mit der Aufgabe seiner Kanzlerschaft den Weg für eine große Koalition endgültig frei machen muss. Auch der Kanzler sprach erst über Inhalte. Dann fügte er hinzu, dass eine Situation bestehe, in der man einige Probleme »nicht länger vor sich herschiebt«. Schröder wurde die Frage zugerufen, ob es in dem Spitzengespräch dann auch um die Führungsfrage geht. Ja, natürlich, gab Schröder zurück. Und dann wurde er gefragt, ob immer noch gelte, dass er einer Regierungsbildung nicht im Wege wolle. »Das war doch weise, oder nicht«, meinte Schröder. »Das gilt nach wie vor.«
Damit hatten sich an diesem Tag beide Seiten bewegt. Die Union kann nun sagen, dass Koalitionsverhandlungen nicht aufgenommen wurden, bevor nicht die Personalfragen entschieden sind. Die SPD kann darauf verweisen, dass bereits Inhalte weitestgehend vorgeklärt sind, wie sie immer verlangt hatte.
Das heutige Spitzengespräch wird nun eine weitere »Scharnierfunktion« haben, wie Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU) sagte. Nach Einschätzung von Beobachtern könnte das Ergebnis so aussehen: Die Union wird letztlich die Kanzlerschaft Merkels durchsetzen, die SPD wird sich bei der Zahl der Ministerposten schadlos halten. Vielleicht werden die Sozialdemokraten auch noch den Parlamentspräsidenten für sich heraushandeln können.
Vor dem Treffen hatte sich einige Spannung aufgebaut. Insbesondere in der Spitze der Union hatte sich zu Beginn der Woche Ärger breitgemacht, dass sich die SPD am Wochenende keinen Millimeter bewegt habe. Der eine oder andere spielte mit dem Gedanken eines Abbruchs der Gespräche.
Schon gestern zeichnete sich aber ab, dass beide Seiten den ganz großen Knall vermeiden wollen. Dennoch wird die Spitzenrunde mit Merkel, Stoiber, Müntefering und Schröder noch dicke Bretter zu bohren haben.

Artikel vom 06.10.2005