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Auf zum Altenkränzchen ins Wohnstift Oetkerhalle

Theater Bielefeld eröffnet Musiktheatersaison mit Rossini-Oper »Die Reise nach Reims« -Êstehende Ovationen

Von Uta Jostwerner
Bielefeld (WB). Reisen bildet. Verhindertes Reisen hingegen beflügelt -Êzumindest die Fantasie und Imaginationskraft.

Von dem misslichen Umstand, der Gioacchino Rossinis Oper »Die Reise nach Reims« innewohnt, haben sich Inszenierungsteam und Ausführende inspirieren lassen und dem Publikum am Theater Bielefeld einen zündenden Saisonauftakt beschert.
Im Altenwohnstift Oetkerhalle herrscht geschäftiges Treiben. Reinigungspersonal poliert das gediegene Ambiente der mit Patina überzogenen Residenz auf, derweil Pfleger Essen austragen und Pillen darreichen. Nicholas Broadhurst bringt Mut auf, wenn er das Hotel zur Goldenen Lilie durch eine Altersresidenz ersetzt. Doch der Kunstgriff des Regisseurs soll aufgehen.
Die hochbetagten Damen und Herren der vornehmen Gesellschaft vereint ein Ziel, nämlich zur Krönung Karls X. nach Reims zu reisen. Zwar werden sie ihr Ziel niemals erreichen, doch begeben sie sich auf eine innere Reise.
Rossini, der die Oper 1825 anlässlich der Krönungsfeierlichkeiten für den neuen Bourbonenkönig schrieb, komponierte ein Fest der Stimmen und zugleich eine Satire auf den europäischen Adel. Man konnte sich über seine Schrullen amüsieren und freuen, dass er niemals nach Reims gelangen würde. Plausibler Grund damals: Die Pferde waren ausgegangen.
Musiktheater, das sich als zeitgemäß begreift, sollte hingegen den Gehalt eines Werkes für ein heutiges Publikum erschließen. Folgerichtig fragt Broadhurst in seiner Inszenierung nach den heute nachvollziehbaren Gründen für das verhinderte Reiseunternehmen und wird bei den körperlich auferlegten Begrenzungen des Alters fündig. Die Seele freilich ist jung geblieben, sie entbrennt noch immer in Leidenschaft und Begierde. Lediglich der Körper setzt Grenzen. Grenzen, die ungeschönt -Êdie Maskenbildner haben Unglaubliches geleistet -Ê, aber dennoch mit Slapstick auf die Bühne gelangen. Darin liegt die Stärke der Inszenierung, dass sie ein Tabu-Thema aufgreift, ohne zu entblößen. Motto: Das Leben ist lebenswert.
So ist jede Rolle liebevoll charakterisiert und individuell -Êbis hin zum Chor (Einstudierung: Hagen Enke) durchchoreografiert (Bewegungstrainer Struan Leslie zieht alle Register seiner Kunst). Allein der Reichtum im Detail und die Aufnahme Oetkerhallen-spezifischer Elemente ins Bühnenbild (Timo Dentler, Okarina Peter) faszinieren.
Schauspielerisch wie gesanglich werden die Sinne im höchsten Maße stimuliert. Madame Cortese (Melanie Kreuter) hat eine zwanghafte Kämm-Manie. Die Gräfin von Folleville (Diana Amos) ist sich trotz Gehhilfe ihrer gesellschaftlichen Stellung bewusst. Auch Don Profondo (Damon N. Ploumis) bewahrt zwischen abwechselndem Zug an Atemmaske und Zigarette stets die Contenance. Wie die deutsche Eiche steht Baron von Trombonok (Michael Leibundgut) für Harmonie und Ordnung. Da haben es Don Alvaro (Mikael Babajanyan) und Graf von Libenskof (Clemens Löschmann) schon schwerer. Sie müssen ihre Rivalität um Vollblutweib Marquise Melibea (Mojca Vedernjak) auf Krücken austragen. Der schüchterne Lord Sidney (Michael Bachtadze) greift zum Gehhilfen-Lauf, um sich aus Liebe zu Corinna (Victoria Granlund) zu erschießen. Diese bereitet, im motorgetriebenen Rollstuhl sitzend, dem anzüglichen Werben des Chevalier Belfiore (Florian Mock) ein rabiates Ende. Mit Komik gespickt, wird jede Nummer zum Paradestück.
Das Bild einer kollektiven Meisterleistung rundet das unter GMD Peter Kuhn champagnerlaunig aufspielende Philharmonische Orchester ab. Kuhn lenkt mit gestischer Kraft, er kennt die ausgelassene Buffo-Laune wie den ernsteren Seria-Tonfall und darf sich dabei auf konzentrierte Präzisionslust im Orchester verlassen.
Somit gerät das zwischen Schlabberlatz und Schnabeltasse ausgetragene Altenkränzchen zu einem Fest für die Sinne.

Artikel vom 05.10.2005