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Die richtigen Krisen kommen noch

Jetzt wartet auf die Regierung in Ankara der graue Verhandlungsalltag

Von Ingo Bierschwale
Istanbul (dpa). Der »Tag danach« war für die Türkei ein Jubeltag: Erfüllung eines 42 Jahre alten Traumes, Aufbruch in ein neues Zeitalter und die feste Überzeugung, dass eine »neue« Türkei - trotz aller zu erwartenden Schwierigkeiten - eines Tages ihren verdienten Platz in der EU einnehmen wird.
Vor der Beyazit-Moschee in Istanbul wehen die türkische und die EU-Flagge bereits einträchtig nebeneinander. Foto: dpa

»Was wir daraus machen, hängt von uns ab«, sagte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nach der »historischen« Einigung von Luxemburg, der seine Regierung wie keine andere vor ihr mit entschlossenen Reformen den Boden bereitet hatte.
Vergessen waren für einen Augenblick alle Enttäuschungen über den »unverschämten und ehrverletzenden« Umgang der EU mit der Türkei, von denen sich in den Tagen vor dem 3. Oktober selbst entschiedene EU-Befürworter nicht hatten freimachen können. Zwar wollte an diesem Jubeltag - bis auf einige notorische Miesmacher - keiner Wasser in den Wein schütten. Dennoch wagten einige einen vorsichtigen Blick auf das, was der Türkei jetzt bevorsteht: der graue Verhandlungsalltag.
»Wir werden Krisen erleben, die uns wehmütig an die zurückdenken lassen werden, die wir bisher durchgemacht haben«, prophezeite der prominente türkische Kolumnist Mehmet Ali Birand. »Türen werden knallen, Tische werden verlassen und wir werden erleben, dass die Verhandlungen für längere Zeit ausgesetzt werden.« In den auf 10 bis 15 Jahre veranschlagten Verhandlungen wird die Türkei 35 Kapitel abzuarbeiten haben, die jeweils am Veto eines einzigen der 25 Mitglieder der Gemeinschaft scheitern können.
Natürlich werde man mit den leichtesten Kapiteln anfangen, sagt ein EU-Diplomat. »Es war auch bisher bei den anderen Erweiterungen immer so, dass wir immer erst mal die leichten Sachen aus dem Weg geräumt und uns die schweren Brocken am Ende der Verhandlungen vorgenommen haben.« Trotzdem entging aufmerksamen türkischen Beobachtern nicht, dass unter den ersten sechs Kapiteln, die Ankara offiziell mitgeteilt wurden, nicht nur Wissenschaft und Forschung, Statistik, Bildung und Kultur sind, sondern auch die Landwirtschaft, die zusammen mit der Umwelt als das schwierigste Verhandlungsthema angesehen wird.
Als politisch brisantestes Kapitel könnte sich allerdings der freie Verkehr von Dienstleistungen herausstellen. Dieses beträfe auch die Öffnung türkischer Häfen und Flughäfen für griechisch-zyprische Schiffe und Flugzeuge und könnte somit direkt in die erste Krise führen, meinen türkische Kommentatoren. Die von der EU in Aussicht gestellte Überprüfung, ob die Türkei ihren »Verpflichtungen« gegenüber Zypern nachgekommen ist, hängt aber so oder so im nächsten Jahr wie ein Damoklesschwert über Ankara.
Doch nicht nur Zypern oder das »sture« Österreich, das 2006 die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, werden den Türken das Leben schwer machen. Es gebe heimlich eine Gruppe von Ländern, die Österreich »aufgestachelt« hätten, schrieb gestern der türkische Kolumnist Semih Idiz. »Ansonsten hätte ein strategisch so unbedeutendes Land sich nicht dermaßen gegen die anderen 24 Mitglieder auflehnen können.«

Artikel vom 05.10.2005