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Glück lässt auf sich warten
Oliver Twist neu verfilmt -ÊSchicksal der Armen im Blick -ÊBuch schon vorab
Glimmer, Glitzer und Blitzlichter. Roter Teppich und Champagner. So feierten die Premierengäste in Prag kürzlich den Film »Oliver Twist«. Die fröhliche Feier stand ganz im Gegensatz zu der meist tristen Handlung auf der Kinoleinwand.
Oliver Twist ist wohl Charles Dickens bekanntester Roman. Vor 150 Jahren erschienen, zog er seitdem immer wieder große und kleine Menschen in seinen Bann. Der englische Schriftsteller schildert in dem Buch die Welt armer Leute, der Obdachlosen und Hungerleider, der kleinen Diebe und der großen Verbrecher, die nicht davor zurückschrecken, Kinder für ihr schlimmes Tun einzuspannen.
Oliver Twist kommt als Waisenjunge zur Welt. Seine Mutter stirbt kurz nach der Geburt. Oliver wächst ohne Liebe auf - oft genug auch ohne Essen.
Im Armenhaus, wohin man ihn viel zu früh einweist, wird alles noch schlimmer. Roman Polanski führt im neuen Oliver-Twist-Film Schlafsäle vor, in denen sich enge Bettkisten ohne jeden Abstand aneinander reihen. Tagsüber arbeiten die Kinder an Tauen - für einen kleinen Teller Haferbrei. Viele werden krank oder sterben vor Erschöpfung.
Nicht viel besser ergeht es Oliver Twist bei einem Leichenbestatter, der ihn als Arbeitskraft zu sich nimmt. Ob Chef, Ehefrau oder Gehilfe - alle schubsen sie den Jungen nur herum. Sie demütigen, schlagen und erniedrigen ihn. Irgendwann hat Oliver Twist genug erduldet. Er haut ab.
Das ist der Augenblick, da der Junge erstmals versucht, das Leben in die eigene Hand zu nehmen. Irgendwie schlägt er sich bis in die 70 Meilen entfernte Hauptstadt London durch. Doch noch meint es das Schicksal schlecht mit dem armen Oliver. Er gerät in die Hände einer Diebesbande. Als er sie das erste Mal auf einer Diebestour begleitet, wird er verhaftet. Obwohl unschuldig, soll er drei Monate ins Gefängnis.
In dieser Situation hat Oliver Twist das erste Mal in seinem Leben wirklich Glück. Ein Mann bezeugt seine Unschuld. Und statt im Gefängnis schläft er das erste Mal in einem weichen Federbett.
Noch ein Mal holt die dunkle Seite des Schicksals ihn ein. In den Händen der Diebesbande erlebt er nach seiner Entführung dramatische Augenblicke. Es geht auf Leben und Tod.
Polanskis Kinofilm zieht die Zuschauer hinein in das Leben vor 150 Jahren. Das Elend der Armseligen wird sichtbar, fast körperlich spürbar. Verstört verlässt man den Film - voller Achtung für den armen Oliver, der sich in dieser schwierigen Zeit ein menschliches Herz bewahrt hat.
Bis der Film in die deutschen Kinos kommt, dauert es noch etwa zwei Monate. Das Buch zum Film aber - eine knappe, mit zahlreichen Fotos aus dem Film versehene Zusammenfassung - gibt es bereits jetzt. Unter dem Titel »Oliver Twist« erscheint es im Verlag Gerstenberg, es kostet 12,90 Euro. Bernhard Hertlein

Artikel vom 08.10.2005