05.10.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Ein Schlag - und alles ist vorbei

Psychiatriepatient streckt Besucher nieder - Gericht verurteilt Klinik

Von Christian Althoff
Lübbecke (WB). Ein Arzt des Krankenhauses Lübbecke soll dafür verantwortlich sein, dass ein Psychiatriepatient einen Besucher niederschlagen konnte. Das Opfer ist seit dem Angriff vor zwei Jahren berufsunfähig. Das Landgericht Bielefeld hat das Krankenhaus deshalb verurteilt, dem Mann 36 000 Euro Schadensersatz und 35 000 Euro Schmerzensgeld zu zahlen.
Opfer Rolf S. kann sich über das Urteil, das ihm Schmerzensgeld und Schadensersatz zubilligt, nicht freuen: »Ich werde von Angstattacken geplagt und wage mich kaum aus dem Haus«, sagt er. Fotos: Althoff
Das Krankenhaus Lübbecke: Hier wurde Rolf S. von einem Psychiatrie-Patienten 2003 so schwer verletzt, dass er bis heute berufsunfähig ist.

»Meine Gesundheit, meine berufliche Existenz, das Gefühl, in Sicherheit zu leben - ich habe damals alles verloren«, sagt Rolf S. (49) aus Lübbecke. Bis zu jenem folgenschweren Tag im November 2003 hatte er als Berufsbetreuer gearbeitet. Im Auftrag zahlreicher Amtsgerichte aus den Kreisen Gütersloh, Herford und Minden-Lübbecke kümmerte sich S. um etwa 50 Menschen, die aufgrund geistiger oder körperlicher Störungen nicht mehr in der Lage waren, ihre Alltagsgeschäfte zu erledigen, und keine Verwandten hatten, die diese Aufgaben übernehmen konnten.
Einer seiner Schützlinge war Hasan Ö. (29) aus Espelkamp - ein psychisch kranker Türke, der gewalttätig wurde, wenn er seine Psychopharmaka nicht einnahm. »Ohne Medikamente stellte der Mann eine echte Gefahr dar, zumal er einem Boxverein angehört hatte und entsprechend trainiert war«, erinnert sich der Betreuer.
2003 begann Hasan Ö., die Einnahme seiner Medikamente zu verweigern. Immer wieder versuchte Rolf S., seinen Schützling dazu zu bewegen, mit ihm zum Arzt zu fahren - vergeblich. Weil Polizisten inzwischen in seiner Wohnung ein Gewehr gefunden hatten und der Mann als hochgefährlich galt, erließ das Amtsgericht Rahden im Oktober 2003 einen Unterbringungsbeschluss. Hasan Ö. wurde in die Psychiatrie des Krankenhauses Lübbecke gebracht, wo er mit Medikamenten behandelt werden sollte.
»Hasan widersetzte sich aber jeder Therapie«, erzählt Rolf S. Er sei deshalb am 3. November ins Krankenhaus gefahren, um auf den Patienten einzuwirken. »Ich saß mit ihm und dem Stationsarzt im Arztzimmer, wo Hasan sofort aggressiv wurde.« Daraufhin ließ der Arzt den Patienten zurück in sein Zimmer bringen und ordnete an, ihm eine Spritze zu geben. »Zehn Minuten später sagte der Stationsarzt, ich könne jetzt mit Hasan sprechen.« Doch kaum hatte Rolf S. das Krankenzimmer betreten, stürzte sich der 29-jährige Amateurboxer auf den Betreuer und streckte ihn mit einem Fastschlag ins Gesicht nieder. Rolf S. schlug im Fallen gegen eine Wand und verlor das Bewusstsein. Später wurde eine dreifache Jochbeinfraktur festgestellt, der Augeninnenknochen war mehrfach gebrochen und ein Nerv derart eingeklemmt, dass die rechte Gesichtshälfte gelähmt war.
»Ich habe fast zwei Jahre in Krankenhäusern, Rehakliniken und psychiatrischen Einrichtungen verbracht«, erzählt Rolf S. Die Brüche seien verheilt, doch die Gesichtslähmung noch nicht ganz verschwunden: »Ich spüre ständig ein Kribbeln.« Viel schlimmer seien die psychischen Folgen der Tat: »Ich habe Angst, aus dem Haus zu gehen.« Ärzte haben Rolf S. bereits den nächsten Aufenthalt in einer Trauma-Klinik verschrieben.
Nach der Tat hatten die Amtsgerichte andere Betreuer für die Klienten des schwer verletzten Lübbeckers bestellt. Sein Büro, das er zehn Jahre geführt hatte, hatte er schließen müssen: »Ich stand ohne Einkünfte da.« Mit 1200 Euro Berufsunfähigkeitsrente, die die Berufsgenossenschaft zahlt, bestreitet er sein Leben.
Rechtsanwältin Monika Hähn aus Lübbecke hatte deshalb das Krankenhaus verklagt. Sie argumentierte, der Arzt habe Rolf S. nicht zu dem gewalttätigen Patienten lassen dürfen. Das sah die 8. Zivilkammer des Bielefelder Landgerichtes ebenso. Ein Gutachter hatte nämlich festgestellt, dass dem Patienten am 3. November 2003 nach seinem ersten Gewaltausbruch eine Depotspritze gegeben worden war - »und deren Wirkung tritt erst nach ein paar Tagen ein«, heißt es im Urteil.
Seit fünf Wochen hält Rolf S. nun den Richterspruch in Händen, der ihm nicht nur Schmerzensgeld und Schadensersatz zugesteht, sondern das Krankenhaus zudem verpflichtet, für alle künftigen Folgeschäden aufzukommen. Seine innere Ruhe hat der Mann trotzdem nicht gefunden: »Der Kreis Minden-Lübbecke hat als Krankenhausträger Berufung eingelegt. Anstatt mich als Opfer zu entschädigen, zwingt man mir jetzt einen weiteren Rechtsstreit auf«, sagt Rolf S. verbittert.
Hasan Ö. lebt heute bei seiner Mutter und wird von der Lebenshilfe betreut.

Artikel vom 05.10.2005