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Deutsche wollen Reformen

Bertelsmann-Stiftung: höchste Opferbereitschaft bei den Älteren

Von Andreas Kolesch
Gütersloh (WB). Vier von fünf Deutschen wollen nach einer neuen Studie weitere Reformen in Staat und Gesellschaft. Zu eigenen Opfern ist vor allem die ältere Generation bereit. Viele junge Leute unter 30 hingegen sind der Untersuchung zufolge schlecht informiert und reformunwillig.

In der Rangliste der geforderten Veränderungen steht der Wunsch nach mehr staatlichem Engagement zugunsten der Kinder mit 89 Prozent an erster Stelle. 75 Prozent der Deutschen wünschen sich verständlichere Verwaltungsentscheidungen, 74 Prozent eine Beschneidung der Bürokratie und ebenso viele schlüssige Konzepte zur Bewältigung der zunehmenden Überalterung der Gesellschaft. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes TNS Emnid im Auftrag der Gütersloher Bertelsmann-Stiftung.
Nach wie vor besteht aber ein großer Unterschied zwischen der Forderung nach weiteren Reformen und der Bereitschaft, als Einzelner einen Beitrag dazu zu leisten. »Grundsätzlich gibt es große Zustimmung. Sobald aber jemand selbst betroffen ist, nimmt die Reformbereitschaft ab«, sagte Projektleiter Oliver Haubner am Freitag dieser Zeitung.
Auch 15 Jahre nach der deutschen Einheit ist der Ost-West-Unterschied beim Staatsverständnis der Deutschen ungebrochen. Während annähernd drei Viertel der Deutschen in den alten Bundesländern angaben, die Bürger seien in erster Linie selbst für ihr Wohlergeben verantwortlich, waren es in den neuen Bundesländern nicht einmal zwei Drittel der Befragten. Damit sei die Forderung nach einem »Vollkasko-Staat« im Osten Deutschlands deutlich ausgeprägter als im Westen, sagte Haubner.
Der Umfrage unter 1000 Bundesbürgern zufolge ist nahezu jeder zweite Deutsche nur schlecht oder gar nicht über die bereits vollzogenen Reformen etwa auf dem Arbeitsmarkt oder im Gesundheitssystem informiert. 44 Prozent der Befragten gaben an, in den vergangenen fünf Jahren keine gewichtigen Veränderungen auf Staats- oder Verwaltungsebene bemerkt zu haben.
Vor allem die Generation unter 30 Jahren habe die brisante Lage des Rentensystems bislang nicht erkannt. Obwohl gerade diese Generation sich darauf einstellen müsse, in deutlichen höherem Maße privat für das Alter vorzusorgen, sei das »Bewusstsein für das Problem nicht da«, sagte Haubner. In der Generation über 60 rechne hingegen ein weitaus größerer Anteil der Menschen mit einem Rückgang staatlicher Rentenleistungen und der wachsenden Notwendigkeit privater Vorsorge.
Dass Unwissenheit und Desinteresse an der Entwicklung des Staates und der Sozialsysteme in der jüngeren Generation in so starkem Maße ausgeprägt erscheinen, hat die Bertelsmann-Stiftung überrascht. Haubner kündigte am Freitag eine Folgestudie an, in der die Ursachen ergründet werden sollen. Die Studie ist Teil des Projektes »Staat der Zukunft«, das die Stiftung gemeinsam mit dem Innenministerium verantwortet.

Artikel vom 01.10.2005