01.10.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Aus dem »Manifest«

»Du bist von allem ein Teil. Und alles ist ein Teil von dir. Du bist Deutschland.«

Leitartikel
Reklame für den Aufbruch

Deutschland, das sind
wir selber


Von Bernhard Hertlein
Gestern noch waren wir Papst. Nun sind wir Deutschland. Sie. Und ich. 82 Millionen Menschen. Eine riesige Werbekampagne, initiiert von Bertelsmann und finanziert von so ziemlich allen großen Medienkonzernen der Bundesrepublik, wird die Botschaft bis zum kommenden Frühjahr jedem von uns ständig aufs Neue eingetrichtert: Du bist Deutschland.
Ich bin Deutschland? Dann habe ich mich jüngst gegen Sloweniens Fußballer wohl ein bisschen blamiert. Und Formel-1-Weltmeister bin ich leider auch nicht mehr, weil der Alonso in dieser Saison ein bisschen schneller fuhr als mein Ferrari.
Dafür stapfe ich nach Feierabend durch Rentenlöcher und sehe vor mir Berge von Arbeitslosen. Zwischendurch sitze ich am Krankenbett des Gesundheitssystems. In der einen Richtung verstellt mir die Staatsverschuldung, in der anderen die Globalisierung jeden Blick auf eine schöne Zukunft.
Wie bitte? Ich soll mal nicht übertreiben? Schließlich sei ich auf der anderen Seite doch auch Damenfußball- und wirtschaftlich gesehen Export-Weltmeister?
Hören Sie, gerade haben Sie behauptet, ich sei Deutschland. Als Deutscher aber habe ich das Recht, zu jammern und zu lamentieren, bis mein Zustand und mein Land wirklich so schlecht sind, wie ich es schon seit Jahren befürchte und beschreibe!
Du bist Deutschland - das könnte heißen: Du bist Teil des nationalen Nörglertums und der verbreiteten Miesepetrigkeit. Auch dich hat die »German Angst« fest im Griff.
Doch die Gütersloher Initiatoren der größten und teuersten Werbekampagne 2005 zielen natürlich genau auf das Gegenteil.
Du bist Deutschland - das heißt in Wirklichkeit: Löse dich aus dieser Angst! Verlasse das Jammertal! Pack an! Werde aktiv!
Du bist Deutschland - das klingt pathetisch und ist es im Übrigen auch. Aber es ist nicht nationalistisch. Denn Deutschland, das sagt die Kampagne zu Recht, ist auch der farbige Fußballer Gerald Asamoah. Deutschland, das sind auch die Behinderten und Obdachlosen, die Kloputzer und die Pfleger von Alzheimer-Patienten. Wer an seinem Platz mehr leistet als man von ihm erwarten kann, verdient es, hervorgehoben zu werden. Er ist vielleicht kein Held, aber er könnte ein Vorbild sein - vielleicht mehr als mancher deutsche Star, der seine Steuern in Monaco bezahlt. »Deutschland, das sind wir selber«, hat schon Heinrich Heine gesagt -Êvor mehr als 170 Jahren.
Die Mutmacher-Kampagne dieser Zeitung war gestern - und eine gute Vorbereitung. Jetzt werden Aktivmacher gesucht. Die Zeit ist reif, sich zu begeistern.
Im Prinzip geht es immer noch um den Ruck, den Alt-Bundespräsident Roman Herzog herbeireden wollte. Ob die Kampagne jetzt mehr Erfolg hat? »Nichts ist unmöglich«, heißt ein anderer, sehr erfolgreicher Werbespruch. Der ist doch aus Japan? Na und. Wer sagt, dass Deutsche nicht von anderen Ländern lernen können?

Artikel vom 01.10.2005