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Tabuisiert und schwierig zu diagnostizieren

Dritte Tagung zu chronischen Depressionen und Suizidalität im Alter thematisiert Problem

Bethel (uj). Depressionen und Suizidalität im Alter stellen auch heute noch ein gesellschaftliches Tabu dar. Aus medizinischer Sicht rückt das Thema hingegen zunehmend in den Fokus von Ärzten, Therapeuten und Pflegern.
Das von den von Bodelschwingschen Anstalten Bethel ausgerichtete dritte bundesweite Treffen der Altersdepressionenstationen stand in den vergangenen beiden Tagen ganz im Zeichen des informativen Austausches. Depression, so Dr. Christine Thomas, Leitende Ärztin der Abteilung Gerontopsychiatrie der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin am Evangelischen Krankenhaus Bielefeld, stelle eine häufige Diagnose im Alter dar. »Gerade im höheren Lebensalter weisen bis zu 30 Prozent der Patienten aufgrund chronischer Erkrankungen und zunehmender körperlicher Hinfälligkeit behandlungsdürftige Depressionen auf«, erläutert Dr. Thomas.
Grund zur Sorge bereiteten die steigenden Selbsttötungen im höheren Lebensalter. Dr. Thomas: »Jedes zweite weibliche Suizidopfer ist über 65 Jahre alt. Bei Männern über 70 nimmt die Zahl besonders gravierend zu.« Bei den über 70-jährigen Männern gibt es 30 Selbsttötungen auf 100 000 Einwohner, bei den 90-Jährigen werden bereits 100 Suizide verzeichnet -Ê die angenommen hohe Dunkelziffer nicht mitgerechnet.
Risikofaktoren seien eine zunehmende Vereinsamung, der plötzliche Tod des Lebenspartners sowie körperliche Einschränkungen und der damit verbundene Verlust der Selbstbestimmung.
Etwa 50 Prozent aller Opfer habe gut vier Wochen vor der Selbsttötung wegen körperlicher Symptome den Hausarzt aufgesucht. Da sich die Diagnosestellung »Depression« als schwierige erweise, bestünde nach wie vor sowohl bei der Bevölkerung als auch bei den niedergelassenen Hausärzten Aufklärungsbedarf, so die Expertin. Auch gelte es, einer vorschnellen Akzeptanz von Selbsttötungen im Alter entgegen zu wirken.
Ein weiteres Problem bestünde darin, dass das derzeit bestehende Hilfenetz von Älteren kaum in Anspruch genommen würde. Besonders Männer täten sich schwer, Hilfe anzunehmen und soziale Kontakte zu pflegen. Eine enge Kooperation von Hausärzten, Pflegediensten und Beratungsstellen müsse weiter ausgebaut werden.
Dr. Thomas: »Depression im Alter ist medikamentös und psychotherapeutisch gut zu behandeln. Auch für hochbetagte Menschen stehen nebenwirkungsarme Antidepressiva zur Verfügung. Bis heute gibt es jedoch zu wenige Angebote und ambulante Therapieplätze für Ältere.«
Bei der Tagung, an der 70 Teilnehmer aus 35 Kliniken teilnahmen, wurden spezielle, mit Erfolg in Bethel praktizierte Therapiemethoden vorgestellt. Gute Wirkung zeige die Musiktherapie. Auch sanfter Ausdauersport wie Walking und Nordic Walking führten zu einer deutlichen Verbesserung des depressiven Zustandsbildes. Beide Verfahren werden in Bethel in Kombination mit soziotherapeutischen Kompetenzgruppen erfolgreich eingesetzt. Ferner sei eine Behandlung im mulitprofessionellen Team von Wichtigkeit.
Für falsch wird es in Bethel erachtet, dem Patienten Aufgaben, die er noch selbst erledigen kann, abzunehmen. »Um Kompetenzen zu fördern und zu erhalten, werden unsere stationären Patienten mit in die Stationsarbeit eingebunden«, unterstreicht Gabriele Lässig, Stationsleiterin. Ein schrittweiser Übergang der stationären Therapie über tagesklinische Therapieangebote bis hin zu ambulanten Gruppen sichere den Behandlungserfolg langfristig.

Artikel vom 01.10.2005