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Falsches Rezept: Frau
lebt jahrelang in Trance

Arzt verordnet zu hohe Dosis eines Beruhigungsmittels

Von Christian Althoff
Bielefeld (WB). Vier Jahre lang hat eine Bielefelderin in einer Art Trance-Zustand gelebt. Ihr Hausarzt hatte ihr ein Beruhigungsmittel in einer Dosis verschrieben, die dreimal so hoch war wie die Empfehlung des Herstellers. »Das war ein Behandlungsfehler«, stellte jetzt die Gutachterkommission der Ärztekammer Westfalen-Lippe fest.
Vier Jahre lebte Brigitte P. unter Drogen und nahm ihre Umwelt kaum wahr. Foto: Althoff

Ein Reihenhaus am Bielefelder Stadtrand. Auf dem Wohnzimmertisch liegt ein herbstliches Gesteck aus Kastanien, Tannenzapfen und bunten Blättern. »Das habe ich mit meinen Enkelkindern gebastelt. Die Beschäftigung mit den beiden hilft mir, mein Leben neu zu ordnen«, sagt Brigitte P. (54).
Die Frau war in Behandlung, weil sie von Angstzuständen geplagt wurde. Nachdem sie eine Psychotherapie abgelehnt hatte, hatte ihr Hausarzt ihr im Oktober 1999 Durazanil verschrieben - ein Beruhigungsmittel, das bereits nach einigen Wochen abhängig machen kann. Drei der länglichen, grünen Tabletten schluckte die Patientin täglich, während der Pharmahersteller für die ambulante Behandlung höchstens eine Tablette pro Tag empfiehlt.
Dessen ungeachtet verschrieb der Hausarzt Brigitte P. alle zwei bis drei Wochen eine neue 50-er-Packung - mehr als vier Jahre lang. »Meine Frau lebte in ihrer eigenen Welt«, erinnert sich Kfz-Meister Dieter P. (58). »Sie war in schlechter Stimmung, hat die meiste Zeit im Bett verbracht und ihre Umwelt kaum noch wahrgenommen. Ihr war alles egal.« Im Sommer 2001 bekam Brigitte P. nicht einmal mit, dass sie Großmutter einer Enkeltochter geworden war. »Ich lebte wie hinter einem Schleier«, sagt die Bielefelderin mit belegter Stimme und wischt sich mit dem Handrücken Tränen von den Wangen.
»Den Zustand meiner Frau habe ich auf eine schwere psychische Erkrankung zurückgeführt und mich immer wieder gefragt, warum ihr die vielen Tabletten nicht helfen. Wir haben unserem Arzt aber weiter vertraut«, erzählt Dieter P. Er musste jahrelang zusammen mit seinem Sohn den Haushalt führen, weil seine Frau dazu nicht mehr in der Lage war. »Wenn sie mal das Bett verließ, fiel ihr alles hin, was sie anfasste. Sie konnte ihre Bewegungen nicht richtig koordinieren. Es war fürchterlich anzusehen, und es ist ein Wunder, dass unsere Familie an dieser Situation nicht zerbrochen ist.«
Ab und zu, erinnert sich der Kfz-Meister, habe seine Frau aber auch lichte Momente gehabt, die ein oder zwei Tage gedauert hätten: »Da waren wir richtig euphorisch und haben geglaubt: Jetzt ist der Durchbruch geschafft! Wir haben Pläne für die kommenden Tage gemacht, weil wir annahmen, Beschäftigung würde meiner Frau helfen. Aber dann war sie am nächsten Morgen wieder genauso lethargisch wie zuvor.«
51 Monate hielt dieser Zustand an - bis die Frau mit ihrem Hausarzt in Streit geriet und im Januar 2004 einen anderen Mediziner aufsuchte. »Der schlug die Hände über dem Kopf zusammen und schickte mich sofort zu einer Neurologin.« Unter deren Aufsicht führte Brigitte P. einen ambulanten Entzug durch: »Neun Monate lang wurde die Dosis in kleinen Schritten reduziert, bis ich im September 2004 das letzte Viertel einer Durazanil-Tablette schluckte.« Eine Nebenwirkung des Entzuges war, dass die Patientin 25 Kilogramm zunahm - Pfunde, mit denen sie bis heute zu kämpfen hat.
In der vergangenen Woche hat Brigitte P. ihren 54. Geburtstag gefeiert. »Es war das erste Mal seit Jahren, dass wir wieder Gäste im Haus hatten«, sagt die Frau und strahlt. Als sei das beabsichtigt gewesen, hatte Brigitte P. an ihrem Geburtstag ein Schreiben bekommen, in dem sich die Haftpflichtversicherung des Hausarztes verpflichtet, außergerichtlich Schmerzensgeld und Schadensersatz zu zahlen. »Schließlich waren zwei Gutachter zu dem Ergebnis gekommen, dass der Arzt das Mittel über Jahre in einer zu hohen Dosis verschrieben und nicht über das Abhängigkeitspotential der Tabletten aufgeklärt hatte«, sagt Patienten-Anwältin Heike Eimertenbrink aus Bielefeld, die den Rechtsstreit geführt hatte.
Für Familie P. beginnt jetzt ein neuer Lebensabschnitt. »Ich will viel Zeit mit meinem Mann und meinen vier und zweieinhalb Jahre alten Enkeln verbringen«, sagt die 54-Jährige. »Wir haben viel nachzuholen.«

Artikel vom 01.10.2005