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Die niedliche Systemkritik des
freundlichen Piano-Prokuristen

Wie die »Stasi« allen Leserbriefschreibern ungewollt ein Denkmal setzte

Von Reinhard Brockmann
Bielefeld (WB). Wäre am Montag nicht erst der 15. Jahrestag der Deutschen Einheit, die folgende Geschichte klänge wie aus längst vergangener Zeit.

Den idealtypischen Leserbriefschreiber gibt es nicht. Aber in aller Welt gibt es Menschen, die sich die Mühe machen und zu Papier bringen, was öffentliche Diskussionen bereichert und manche Fehlentwicklung schon verhindert hat.
Auch Rudolph Winkler beschäftigte sich in den 60er Jahren mit dem, was um ihn herum geschah, was die Heimatzeitung und ein überregionales Blatt so schrieben. Er hatte eine Meinung zum »Wunder von Lengede«, ebenso wie ihn der Mord an John F. Kennedy oder manche all zu lobhudelnde Vereinsberichterstattung veranlasste, ein Blatt mit Durchschlagpapier in seine Reiseschreibmaschine vom Typ »Erika« zu spannen.
Aber der gewissenhafte Noch-Prokurist der Magdeburger Musikalien- und Buchhandlung »Heinrichshofen« gebrauchte nicht nur das Wort »peinlich« ein wenig häufiger als andere gebildete Menschen, seine Briefe wurden auch vom DDR-»Ministerium für Staatssicherheit« mitgelesen. Die »Stasi« fing am Ende den gesamten Briefverkehr in Magdeburg ab, prüfte ob eine Schreibmaschine gebraucht wurde und machte tausende Typen-Vergleiche.
Wir wissen nicht, wie hochverräterisch der nach der Flucht seines Chefs in die Abteilung Piano- und Klavierverkauf herabgestufte nette Herr Winkler veranlagt war. Eines ist aber klar: Er wusste um die Brisanz seines Tuns. Er warf die Leserbriefe mal in den Hauspostkasten der Magdeburger Volksstimme ein, mal nutzte er diesen, mal jenen Umschlag oder wechselte die Absendeorte
Vor allem aber lieferte er den »Horch- und Greif« genannten Agenten eine fast ins Niedliche gehende Systemkritik. »Was muten Sie eigentlich der Bevölkerung zu?«, fragt der stets anonyme Schreiber die Redaktion des »Neuen Deutschland« in der Magdeburger Karl Marx Straße 225. »Glauben Sie, wir leben auf dem Mond? Es interessiert uns nicht, wenn sie eine Hausfrau X abbilden - schön gestellt - die glücklich lächelnd von ihrem Einkauf kommt, wenn wir dann die Wirklichkeit auf der Straße sehen: Riesenschlangen anstehend nach zwei Pfund Kartoffeln.«
Seit Jahren sei er Leser und beobachte die bewusst falsche Berichterstattung, die unglaublichen Verdrehungskünste, Heuchelei und »maßlose Hetze gegen alles Westliche, insbesondere Westdeutsche«, schreibt er. Winkler geht ins Grundsätzliche. Meldungen - aus den Jahren vor dem Mauerbau - vom »ständig steigenden Flüchtlingsstrom aus Westdeutschland« will er sich ebenso wenig bieten lassen wie »das blöde Gefasel von der Abwerbung«. Jeder wisse schließlich, aus seiner nächsten Umgebung, warum »hier Monat für Monat viele Tausend Hab und Gut im Stich lassen.«
Den ersten von insgesamt 13 in seiner Stasi-Akte bis heute dokumentierten Leserbriefen schreibt der damals 59-Jährige übrigens an die Süddeutsche Zeitung in München. Hatte er doch im »Neuen Deutschland« die Jubel-Zuschrift eines gewissen Peter Hamm aus dem Süden der Bundesrepublik gelesen - und sich maßlos aufgeregt: »Armer irrer Freund! Kommen Sie doch mal rüber, versuchen Sie hier zu leben und zu arbeiten. Und dann urteilen Sie«.
Kein Brief Winklers erreichte je die Drucklegung. Er selbst wurde dagegen 1966 verhaftet und 1967 zu vier Jahren Zuchthaus wegen »planmäßig betriebener staatsgefährdender Propaganda und Hetze« verurteilt. Winkler wurde nach einer gewissen Schamfrist zum Freikauf gegen West-Mark der verhassten BRD feilgeboten und zog nach Bielefeld, wo er bis zu seinem Tode 1980 eine neue Heimat fand.
Zusammengetragen wurde diese Geschichte von seinem Schwiegersohn Manfred Scharrer, der sich als Schriftsteller eher linker Themen einen Namen gemacht hat. Nach »Freiheit ist immerÉ Die Legende von Rosa & Karl« veröffentlicht Scharrer jetzt im Berliner Transit Verlag den filmreifen Plot um Rudolph Winkler.
Es ist das Porträt eines einfachen Bürgers, der kein Widerstandskämpfer oder Dissident war, sondern nichts weiter tat, als privaten Unmut über Regierung und Partei zu äußern. Allein die präsentierten Auszüge aus 800 Seiten Geheimdienst-Akten machen das Buch zu einem deutsch-deutschen Dokument. Die von der Stasi dabei entwickelte »Tätercharakteristik« gerät zum ungewollt gesetzten Denkmal für alle aufrechten Leserbriefschreiber: »Der Täter ist ein aktiver Leser der Volksstimme, da er sich überwiegend mit den in der Volksstimme veröffentlichten Artikeln auseinandersetzt. Er will nach eigenen Angaben täglich gezwungen sein, die Volksstimme lesen zu müssen.«
Manfred Scharrer, Der Leserbriefschreiber, Tatwaffe »Erika«, 14,80 Euro, Transit-Verlag, Berlin

Artikel vom 30.09.2005