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Wilhelm Busch

»Einer Tüte, wo
nichts drinnen,
weint man keine
Träne nach.«

Leitartikel
Konsens und Schnittmenge

Deutschland einig' Sprüche-Land


Von Rolf Dressler
Wohin man auch hört - ob frei- willig oder unfreiwillig -, überall im Leben sind die fortschrittlichen Leute von heute ziemlich angestrengt auf der Suche nach »Konsens«. Auf Methusalem-Deutsch hieß das dermaleinst schlicht so viel wie Übereinstimmung, Einvernehmen, Verständigung.
Rauf und runter wie wild im Ge- brauch ist neuerdings wieder ein Schlagwort aus der 70er Jahre-Kiste. Ob Politiker, Wirtschaftskapitäne, Gewerkschaftsführer oder Staatsbürokraten: Von morgens bis abends, vom Frühstücksfernsehen bis zur späten Talkshow-Zeit suchen sie »fieberhaft« (abgedroschenes Nachrichten-Deutsch) nach »Schnittmengen« mit ihren jeweiligen Gegenübern, Kontrahenten, Konkurrenten oder besonders hartnäckigen Verhandlungspartnern. Schnittmenge - das legendäre Mengenlehre-Desaster in Deutschlands Schulen lässt grüßen. Gemeint aber sind auch hier natürlich nur schlicht und einfach jene Punkte in der Sache, auf die man sich konkret verständigen kann.
Schließlich versichern vor allem auch Politikschaffende und deren Zuarbeiter in den öffentlichen Verwaltungen uns Bürgern, Wählern und Steuerzahlern allenthalben entschuldigend, sie könnten sich selbst beim besten Willen nun wirklich »nicht neu erfinden«. Das verlangt zwar auch niemand von ihnen. Doch in ganz speziellen Fällen wünschte man es sich durchaus. Zum Beispiel dort, wo Selbstüberhebung und Amtsanmaßung von Bürokraten und deren Verwaltungsapparaten wohlmeinende Bürger buchstäblich zur Weißglut treiben.
Denn längst nicht immer wendet ein verständnisvoller und couragierter Behördenbediensteter eine völlig abstruse Situation zugunsten der Betroffenen zum Guten. Wie etwa im Falle jener beiden Salzuflerinnen, die ihre private und bei jungen Müttern sehr gefragte Kinderbetreuungseinrichtung namens »Zwergenland« nun doch, von Amts wegen besiegelt, weiterführen dürfen.
Geharnischte Proteste zahlreicher Bürger, junger Mütter vor allem, und - mit Verlaub - wohl auch die ausführliche Begleitberichterstattung dieser Zeitung zeigten erfreulicherweise Wirkung.
Die gesetzlichen Anforderungen an eine »Spielgruppe« seien geringer als an eine fachpersonalintensivere »Kinderbetreuungseinrichtung«, befand unbürokratisch rasch entschlossen Bad Salzuflens Jugendamtsleiter Eduard Welslau. Folglich brauche sich das »Zwergenland« nur in »Spielgruppe« umzubenennen.
Na, bitte, geht nicht gibt's nicht. Soll heißen: Was im zünftigen Baumarkt möglich ist, kann auch die Verwaltung - sie muss nur wollen.
Kleine Schlussergänzung: Die Gesundheitsbehörde im thüringischen Ilmenau schreibt vor, dass in Kindergärten kein selbstgefertigtes, sondern nur verpacktes Gebäck aus dem Supermarkt- oder Ladenregal mitgebracht werden darf - »aus hygienischen Gründen«, wie es heißt.
Paragraphenhörigkeit ist der Feind freien Bürgersinns. Darüber sollte eigentlich »Konsens« bestehen. Deutschland braucht sich deswegen nicht neu zu erfinden.

Artikel vom 03.10.2005