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Herwig Birg

»Die politische Klasse habe die Zukunft aufgegeben.«

Leitartikel
Familie

Investition
in die
Zukunft


Von Jürgen Liminski
Zufall oder Ironie der Geschichte? Am selben Tag, da in Berlin eine internationale Tagung der Christdemokraten für das Leben (CdL) und der Konrad-Adenauer-Stiftung die Ursachen der Kinderlosigkeit in Deutschland darlegte, traf in Frankreich die alljährliche, hochrangig besetzte Familienkonferenz zusammen und der Premierminister trug die neuen Maßnahmen seiner Regierung für die Familien und die Hebung der Geburtenrate vor.
Frankreich steht ähnlich tief in der Kreide wie Deutschland, verfehlt ebenfalls seit Jahren die EU-Stabilitätsmarke und dürfte sich die kräftigen Aufschläge für das Erziehungsgeld vom dritten Kind an (auf 750 Euro netto, unabhängig vom Einkommen und zusätzlich zu anderen Zulagen) eigentlich nicht leisten. Aber die französische Regierung will sich von der EU die Zukunft nicht verbieten lassen und investiert in den wichtigsten Zukunftsbereich, die Familie.
Und Deutschland? Professor Herwig Birg, der bekannteste Demograph der Republik, Emeritus der Universität Bielefeld und jetzt Vorstandsmitglied im neu gegründeten »Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie - Idaf« weist darauf hin, dass im Wahlkampf von den demographischen Ursachen für die gesellschaftliche Krise in Deutschland kaum die Rede war. Die politische Klasse habe die Zukunft aufgegeben. Obwohl immer weniger Kinder geboren würden, träten nur »Splittergruppen« für die Familie als ideale Lebensform ein. Wichtigste Aufgabe der Politik müsse die Rückkehr zu einer bestandserhaltenden Geburtenrate sein.
Die Franzosen machen es vor. Natürlich geht es nicht um einen demographischen Wettbewerb zwischen Ländern. Es geht um Vitalität, um Lebensmut und Lebensfreude. Das hat mit Familie, mit selbstloser Liebe und mit Lebenssinn zu tun. Birg bemerkt auch, dass die einflussreichsten ersten Bevölkerungswissenschaftler Theologen waren, dass schon Platon den Zusammenhang zwischen Familie und Transzendenz thematisierte und dass »dort, wo die Menschen noch ein Bewusstsein für religiöse Bindung haben, es auch mehr Kinder gibt«. Dafür gäbe es auch wissenschaftliches Material.
Die logische Folge wäre einfach. »Die Politik muss Rahmen schaffen, damit die Familien Humanvermögen bilden können. Das heißt Subsidiarität und Gerechtigkeit«, so Professor Manfred Spieker aus Osnabrück. Frankreich macht es vor.
Aber hier verweigert sich die Politik in Deutschland. Sie verweigert sogar die Forschung. Von den fünf Lehrstühlen für Bevölkerungsforschung wurden in den letzten Jahren vier geschlossen, obwohl die Politik ständig von der Problematik redet.
Man hat es wohl weniger mit einer Schweigemauer, denn mit einer Geschwätzmauer zu tun. Hauptthema des politischen Diskurses sind Reformen. Man wird sehen, ob die künftige Regierung damit nur Pflaster bis zum nächsten Wahlkampf meint oder echte Zukunftspolitik.

Artikel vom 30.09.2005