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Das zaubert Lächeln
auf all die Gesichter

Der neue Roman von Anna Gavalda startet morgen

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Es war einmal ein armes Mädchen, das musste putzen gehen bei den Reichen. Die arme Camille hatte kein bisschen Speck auf den Rippen, und sie wäre heute noch magersüchtig, wenn sie nicht das Glück gehabt hätte, als Hauptfigur eines Romans von Anna Gavalda auftreten zu dürfen. Als Glückskind des neuen Romans, den das WESTFALEN-BLATT von morgen an abdruckt.
Titelbild des Buches von Anna Gavalda, »Zusammen ist man weniger allein«.

»Zusammen ist man weniger allein« lautet der Titel dieser Geschichte von Anna Gavalda, einer 35-jährigen Lehrerin und Meisterin des süßen Dialogs, die in ihrer Heimat als literarisches Fräuleinwunder und Françoise Sagan des Großstadtromans gepriesen wird. Frankreich nämlich, dessen Buchkritiker stets Rosenwasser ins Schaumbad ihrer Rezensionen gießen, ist völlig aus dem Häuschen: »formidable! époustouflant!« ent! zück! end!
Die solchermaßen gefeierte und mit diversen Preisen ausgezeichnete Madame Miracle, die mit ihrer Familie in der Nähe von Paris lebt, hat zwei - wie sie selbst viel zu kritisch behauptet - »düstere« Bücher geschrieben. Jetzt schlägt sie mit »Ensemble, c'est tout« (Originaltitel) positive Saiten an. Sollten unsere Leser(innen) dennoch befürchten, oh, oh, das driftet aber voll in die Sozialkritik - keine Angst, das legt sich, das rührt zu Tränen, das zaubert ein Lächeln auf alle Gesichter, das wird ja soooo romantisch!
Die Geschichte spielt mitten in der französischen Hauptstadt Paris, im Schatten des Eiffelturms (der gottlob überhaupt nicht vorkommt), in Sichtweite des Champ de Mars, des Marsfeldes. Kalt ist die zugige Mansarde, in der die 26-jährige Camille Fauque untergekrochen ist; ein teures Kamin- Imitat soll in der Bude für Wärme und Gemütlichkeit sorgen, schafft aber beides nicht.
Camille, die den Tag verschläft und in der Nacht putzen geht, liegt halberfroren auf ihrer Matratze, als man sie in die Wohnung darunter bringt. Auf Händen trägt, um genau zu sein. Hinein in ein 300-Quadratmeter-Domizil, dessen schiere Größe bei allen Connaisseuren von Europas Hauptstadt der Abstellkammern spitze Schreie des Verzückung auslösen dürfte.
Camilles Retter allerdings ist ein linkischer Kauz, 36 Jahre alt, dessen voller Name Jehan Louis-Marie Georges Philibert Marquet de la Durbellière den alten Glanz der Grande Nation noch nurmehr matt erahnen lässt. Dieser weltfremde Adlige hat sich vollkommen in die Kämpfe und Intrigen der Vergangenheit versponnen, hat aber einen um so diesseitigeren Kerl bei sich aufgenommen: Franck Lestafier, etwa 30 Jahre alt, schuftet bis zur völligen Erschöpfung in der Küche eines Nobelrestaurants, bricht die Herzen der prolligsten Frauen (aber nur für eine Nacht), kifft und geht nie ohne Sixpack ins Bett.
Nur bei seiner Omi, bei der herzensguten Paulette, wird Franck sehr schwach, hat sie ihn doch an Kindes Statt angenommen und gut aufgepäppelt. Mit der Abschiebung in ein Altersheim hat man Omi bis ins Mark getroffen.
Sie ahnen schon: Nichts bleibt, wie es ist. Camille bleibt nicht magersüchtig und Philibert nicht weltfremd, Franck bleibt kein Macho und Omi nicht allein. Und wenn sie nicht gestorben sind . . .
Also manchmal fühlt man sich bei Anna Gavalda doch ein wenig an Hedwig Courths-Mahler erinnert. Nur schreibt sie nicht so seicht. Und nicht so belanglos. Und sie kann viel schöner erzählen. Ihr Ausschnitt von Paris erwacht fast ausschließlich durch Dialoge zum Leben - epische Breite ist Anna Gavaldas Sache nicht. Aber beobachten kann die Dame! Nicht einmal die feinsten Regungen der menschlichen Seele entgehen ihrem an Frankreichs großer Literatur geschultem Blick.
Dieser Lesegenuss, von dem Sie garantiert bald wünschen, er möge niemals enden, will einfühlsam ins Deutsche übersetzt sein, und Ina Kronenberger trifft eigentlich auch immer den richtigen Ton. Ein paar kleine Ungenauigkeiten verzeihen wir ihr; so verbirgt sich hinter ihrem »Abt« Pierre natürlich niemand anderes als der Abbé Pierre, der Gründer der Obdachlosenbewegung »Emmaus«.

Anna Gavalda: »Zusammen ist man weniger allein«; Carl-Hanser-Verlag München 2005, 551 Seiten, 24,90 Euro.

Artikel vom 28.09.2005