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Oh Schande! Ich habe Ihnen doch nicht weh getan? Was bin ich aber auch ungeschickt, wahrhaftig, ich bitte Sie um Verzeihung... Ich...«
»Kein Problem«, wiederholte sie zum dritten Mal.
Er rührte sich nicht von der Stelle.
»Hm«, bat sie ihn schließlich, »könnten Sie Ihren Fuß anheben, Sie zerquetschen mir gerade den Knöchel, und das tut furchtbar weh.«
Sie lachte. Ein nervöses Lachen.

Als sie drinnen waren, eilte er zur Glastür voraus, damit sie ungehindert durchgehen konnte:
»Tut mir leid, aber ich muß dort lang«, sagte sie bedauernd und zeigte auf den Hinterhof.
»Wohnen Sie im Hof?«
»Eh... nicht direkt... eher unterm Dach.«
»Ah! Hervorragend.« Er zerrte am Henkel seiner Tasche, der sich am Messinggriff verfangen hatte. »Das... das ist gewiß sehr angenehm.«
»Eh... ja«, sagte sie mit einer Grimasse und ging rasch weiter, »so kann man es auch sehen.«
»Einen schönen Abend noch, Mademoiselle«, rief er ihr hinterher, »und... grüßen Sie Ihre Eltern von mir!«
Ihre Eltern. Der Typ war wohl debil. Sie erinnerte sich, wie sie ihn einmal nachts, denn sie kam für gewöhnlich mitten in der Nacht nach Hause, im Eingangsbereich überrascht hatte, im Schlafanzug, mit Jagdstiefeln und einer Dose Trockenfutter in der Hand. Er war ganz aufgewühlt und fragte sie, ob sie nicht eine Katze gesehen hätte. Sie verneinte und ging auf der Suche nach besagtem Kater ein paar Schritte mit ihm durch den Hof. »Wie sieht er denn aus?« erkundigte sie sich, »Bedaure, das weiß ich nicht«, »Sie wissen nicht, wie Ihre Katze aussieht?« Er stand wie angewurzelt da: »Wie soll ich das wissen? Ich habe noch nie eine Katze gehabt!« Sie war völlig verdutzt gewesen und hatte ihn kopfschüttelnd stehenlassen. Der Kerl war entschieden zu durchgeknallt.

»Die bessere Gegend.« Sie dachte noch einmal an Carines Kommentar, als sie die erste von hundertzweiundsiebzig Stufen erklomm, die sie von ihrem Verschlag trennten. Die bessere Gegend, stimmt schon. Sie wohnte im siebten Stock der Hintertreppe eines stattlichen Wohnhauses, das zum Champ-de-Mars ging, und so gesehen konnte man tatsächlich sagen, daß sie nobel wohnte, denn wenn sie auf einen Schemel kletterte und sich gefährlich weit nach rechts aus dem Fenster lehnte, konnte sie tatsächlich die Spitze des Eiffelturms sehen. Was jedoch den Rest anging, meine Liebe, was den Rest anging, war dem nicht wirklich so.
Sie hielt sich am Geländer fest, keuchte schwer und zog die Wasserflaschen hinter sich her. Sie versuchte, nicht stehenzubleiben. Niemals. Auf keinem Stockwerk. Einmal nachts war es ihr passiert, und sie konnte nicht wieder aufstehen. Sie hatte sich im vierten Stock hingesetzt und war mit dem Kopf auf den Knien eingeschlafen. Ein qualvolles Aufwachen war das gewesen. Sie war völlig durchgefroren und hatte eine Weile gebraucht, bis sie wußte, wo sie war.

Aus Furcht vor einem Gewitter hatte sie das Oberlicht geschlossen, bevor sie ging, jetzt seufzte sie beim Gedanken an die Backofenhitze dort oben. Wenn es regnete, wurde sie naß, wenn es schön war wie heute, erstickte sie, und im Winter schlotterte sie. Camille kannte die klimatischen Gegebenheiten in- und auswendig, da sie schon seit über einem Jahr hier wohnte. Sie beklagte sich nicht, dieses schäbige Nest war ihr unverhofft zugefallen, und sie erinnerte sich noch an Pierre Kesslers betretenes Gesicht, als er die Tür zu der Rumpelkammer vor ihr aufstieß und ihr den Schlüssel hinhielt.
Es war winzig, dreckig, zugestellt und eine glückliche Fügung.

Als er sie eine Woche zuvor auf der Schwelle seiner Wohnungstür empfangen hatte, ausgehungert, verstört und still, hatte Camille Fauque ein paar Nächte auf der Straße hinter sich.
Er hatte es zunächst mit der Angst bekommen, als er den Schatten auf dem Treppenabsatz sah:
»Pierre?«
»Wer sind Sie?«
»Pierre«, stöhnte die Stimme.
»Wer sind Sie?«
Er drückte auf den Lichtschalter, und seine Angst wurde noch größer:
»Camille? Bist duÕs?«
»Pierre«, schluchzte sie und schob einen kleinen Koffer vor sich her, »ihr müßt das hier für mich aufbewahren. Das sind meine Utensilien, versteht ihr, mir werden sie bestimmt geklaut. Alles wird mir geklaut. Alles, alles... Ich will nicht, daß sie mir meine Utensilien wegnehmen, sonst krepier ich...Versteht ihr? Ich krepiere.«
Er glaubte, sie phantasiere:
»Camille! Wovon sprichst du denn? Und wo kommst du her? Komm rein!«
Mathilde war hinter ihm aufgetaucht, und die junge Frau brach auf dem Fußabtreter zusammen.

Sie zogen sie aus und legten sie in das hintere Zimmer. Pierre Kessler hatte einen Stuhl zu ihr ans Bett gezogen und betrachtete sie beklommen.
»Schläft sie?«
»Scheint so.«
»Was ist passiert?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sieh nur, in was für einem Zustand sie ist!«
»Pssst.«

Sie wachte einen Tag später mitten in der Nacht auf und ließ ganz langsam Badewasser einlaufen, um sie nicht zu wecken. Pierre und Mathilde, die nicht schliefen, hielten es für ratsamer, sie in Ruhe zu lassen. Sie ließen sie einige Tage bei sich wohnen, gaben ihr einen Zweitschlüssel und stellten ihr keine Fragen. Dieser Mann und diese Frau waren ein Segen.

Als er ihr vorschlug, sie in einem Dienstmädchenzimmer unterzubringen, das er nach dem Tod seiner Eltern in deren Haus behalten hatte, holte er unter dem Bett den kleinen Koffer im Schottenmuster hervor, der sie zu ihnen geführt hatte:
»Hier«, sagte er zu ihr.
Camille schüttelte den Kopf:
»Ich würde ihn lieber hier lass...«
»Kommt nicht in Frage«, unterbrach er sie sofort, »den nimmst du mit. Der hat bei uns nichts zu suchen!«
Mathilde begleitete sie zu einem Verbrauchermarkt, half ihr, eine Lampe, eine Matratze, Bettwäsche, ein paar Töpfe, eine Elektroplatte und einen winzigen Kühlschrank auszusuchen.
»Hast du Geld?« fragte sie, bevor sie sie gehen ließ.
»Ja.«
»Meinst du, es wird gehen, Herzchen?«
»Ja«, wiederholte Camille und hielt die Tränen zurück.
»Möchtest du unseren Schlüssel behalten?«
»Nein, nein, es geht schon. Ich... was soll ich sagen... was...«
Sie heulte.
»Sag nichts.«
»Danke?«
»Ja«, sagte Mathilde und zog sie an sich, »danke, es geht schon, alles in Ordnung.«

Sie schauten ein paar Tage später bei ihr vorbei.
Das Treppensteigen hatte sie erschöpft, und sie ließen sich auf die Matratze sinken.
Pierre lachte, behauptete, dies erinnere ihn an seine Jugend, und stimmte »La Bohäää-me« an. Sie tranken aus Plastikbechern Champagner, und Mathilde zauberte aus einer großen Tasche einen Haufen herrlicher Leckereien hervor. Mit Unterstützung des Champagners und ihrer guten Laune trauten sie sich, ein paar Fragen zu stellen. Einige beantwortete sie, die beiden insistierten nicht.

Als sie sich anschickten zu gehen und Mathilde schon ein paar Stufen hinuntergegangen war, drehte sich Pierre Kessler um und packte sie an den Handgelenken:
»Du mußt arbeiten, Camille... Du mußt jetzt arbeiten.«
Sie schlug die Augen nieder:
»Ich habe das Gefühl, in letzter Zeit viel gemacht zu haben. Viel, viel...«
Er drückte noch fester zu, tat ihr beinahe weh.
»Das war keine Arbeit, und das weißt du genau!«
Sie sah auf und hielt seinem Blick stand:
»Habt ihr mir deshalb geholfen? Um mir das zu sagen?«
»Nein.«
Camille zitterte.
»Nein«, wiederholte er und ließ sie los, »nein. Red nicht solchen Unsinn. Du weißt genau, daß wir dich immer wie eine Tochter behandelt haben.«
»Verloren oder auserkoren?«
Er lächelte und fügte hinzu:
»Arbeite. Du hast sowieso keine Wahl.«

Sie schloß die Tür hinter sich, räumte ihr Puppengeschirr weg und fand unten in der Tasche einen dicken Katalog von Sennelier Künstlerbedarf. Dein Konto ist immer verfügbar... stand auf einem Post-it. Sie hatte nicht die Kraft, darin zu blättern, und trank die Flasche aus.

Sie hatte ihm gehorcht. Sie arbeitete.
Heute wischte sie die Scheiße der anderen weg, was ihr sehr zusagte.

Man kam vor lauter Hitze tatsächlich um. Super Josy hatte sie am Abend zuvor gewarnt: »Beschwert euch nicht, Mädels, wir erleben gerade unsere letzten schönen Tage, bald kommt der Winter, und wir werden uns den Hintern abfrieren! Also beschwert euch ja nicht!«
Sie hatte ausnahmsweise einmal recht. Es war Ende September, und die Tage wurden zusehends kürzer. Camille überlegte, daß sie sich dieses Jahr anders organisieren mußte, früher zu Bett gehen und am Nachmittag aufstehen, um die Sonne zu sehen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 05.10.2005