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Ein Haus mit Geschichte(n)

Mieter lassen die Gründerzeit vor 100 Jahren aufleben

Von Burgit Hörttrich und
Carsten Borgmeier (Foto)
Bielefeld (WB). Zwei Häuser werden 100. Und das wird auf ungewöhnliche Art gefeiert: mit Hausgeschichte(n), die von den Bewohnern in Szene gesetzt werden. Helmut Steinbicker, Besitzer der Häuser Paulusstraße 28 und 30, ist begeistert: »Da werden Erinnerungen aus der Kindheit wieder lebendig.«

Das Haus Paulusstraße 28 ist seit 100 Jahren in Familienbesitz. Helmut Steinbickers Großvater Wilhelm erbaute es, seine Großeltern lebten dort, seine Eltern, er ist dort aufgewachsen und mit seiner Familie erst ausgezogen, als sein drittes Kind geboren wurde: »Weil im Viertel doch sehr viel Autoverkehr ist.« Das Haus Paulusstraße 28 baute 1905 der Maurermeister Wilhelm Klarhorst, Steinbicker erwarb es 1989. Prominentester Bewohner war zwölf Jahre lang Reichsinnenminister (1928-1930) Carl Severing.
Aber Steinbicker weiß auch über andere Mieter Geschichten und Anekdoten zu erzählen. Weil von Anfang an viele Mieter »Theaterleute« - Schauspieler, Sänger, Musiker - waren und auch heute wieder sind, kamen seine Mieter auf die Idee, zum Hausgeburtstag ein szenisches Spiel mit Musik und Tanz zu veranstalten. Frauke Hahn (33), von Beruf Kunst- und Musiklehrerin, hat durch ihr Studium bei Prof. Jürgen Heckmanns die »Stadtpassagen« miterlebt - und sich davon inspirieren lassen. »Ich musste gar nicht besonders für die Idee werben, die Nachbarn waren gleich bereit mitzumachen,« freut sie sich. Mehrere Proben vor der eigentlichen Aufführung morgen, Sonntag, 25. September, 16.30 Uhr (im Hof) wurden absolviert, denn, so Frauke Hahn, »jetzt hat uns alle auch der Ehrgeiz gepackt«.
Die Szenen versetzen die insgesamt 18 Mietparteien in das Jahr 1905 zurück. Über Balkone und durch Fenster werden Geschichten ausgetauscht, die das Leben Anno dazumal widerspiegeln: Sei es über den neu gegründeten Fußballverein »1. Bielefelder FC Arminia oder die Kaiserstraße (heute August-Bebel-Straße). Beteiligt sich »Dienstmagd« und »Waschfrau«, die adelige Vermieterin oder der »Arzt«.
Hausbesitzer Helmut Steinbicker erinnert sich noch an viele Geschichten: etwa daran, dass sein Onkel Carl Severing für einen Groschen Lohn den Koffer zum Bahnhof getragen hat, wenn der Herr Minister nach Berlin reiste. Er weiß auch, dass in den 1930er Jahren drei jüdische Familien im Haus gewohnt haben. Steinbicker: »Eine Familie ist nach Amerika ausgewandert - mein Vater hat ihnen noch einen Elektroherd mit 110 Volt besorgt.« Eine zweite Familie sei 1943 deportiert worden, über das Schicksal der dritten Familie habe er nichts in Erfahrung bringen können.
In seiner Kindheit sei der Hof noch von einer hohen Mauer unterteilt gewesen, heute sei er eine »grüne Oase«. Mieterin Jenny Kampmann (28) lebt erst seit vier Monaten im Haus, aber: »Ich glaube, hier fühlen sich alle wohl!«

Artikel vom 24.09.2005