07.10.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Er legte seinen Helm und seine Handschuhe auf die Theke:
»Warten Sie, warten Sie... Sie haben nicht ganz verstanden...« versuchte er es, ohne sich aufzuregen, »ich komme aus Paris und muß nachher wieder zurück, wenn Sie mich also...«
Eine Krankenschwester kam vorbei:
»Was ist hier los?«
Sie gefiel ihm besser.
»Guten Tag, eh... entschuldigen Sie, daß ich störe, aber ich muß zu meiner Großmutter, die gestern als Notfall hier eingeliefert wurde, und ich...«
»Ihr Name?«
»Lestafier.«
»Oh! Ja!« Sie machte Ihrer Kollegin ein Zeichen. »Kommen Sie mit.«

Sie erklärte ihm kurz die Situation, sprach über die Operation und die voraussichtliche Genesungsdauer und befragte ihn zu Details in der Lebensführung der Patientin. Er konnte ihren Ausführungen kaum folgen, war vom Geruch des Ortes und dem Motorengeräusch, das noch in seinem Ohr nachhallte, wie benommen.

»Hier ist Ihr Enkel!« verkündete die Krankenschwester fröhlich, als sie die Tür öffnete. »Sehen Sie? Ich hatte Ihnen ja gesagt, daß er kommt! Gut, ich lasse Sie jetzt allein«, fügte sie hinzu, »schauen Sie hinterher noch mal bei mir vorbei, sonst kommen Sie hier nicht raus.«
Er hatte nicht die Geistesgegenwart, ihr zu danken. Was er dort im Bett vor sich sah, brach ihm das Herz.

Er wandte sich erst einmal ab, um seine Fassung wiederzuerlangen. Zog seine Lederjacke aus, seinen Pulli, und suchte nach einer Stelle, an der er sie aufhängen konnte.
»Es ist warm hier, was?«
Seine Stimme klang seltsam.

»Alles in Ordnung?«
Die alte Frau, die tapfer versuchte, ihm zuzulächeln, schloß die Augen und fing an zu heulen.

Sie hatten ihr das Gebiß rausgenommen. Ihre Wangen wirkten schrecklich eingefallen, und ihre Oberlippe war im Mund verschwunden.
»Na? Was machst du denn für Mätzchen?«
Dieser scherzhafte Ton verlangte ihm übermenschliche Kräfte ab.

»Ich habe mit der Krankenschwester gesprochen, weißt du, und sie hat gesagt, daß die Operation sehr gut verlaufen ist. Du hast jetzt ein riesiges Eisenstück in dir drin.«
»Sie werden mich in ein Pflegeheim stecken.«
»Nicht doch! Was erzählst du denn da? Du wirst ein paar Tage hierbleiben, dann kommst du in ein Reha-Zentrum. Das ist kein Pflegeheim, das ist fast wie ein Krankenhaus, nur kleiner. Sie werden dich aufpäppeln und dir wieder auf die Beine helfen, und dann, schwuppdiwupp, ab in den Garten mit der Paulette!«
»Wie lange wird das dauern?«
»Ein paar Wochen. Das hängt von dir ab. Du mußt dich anstrengen.«
»Kommst du mich besuchen?«
»Natürlich komm ich dich besuchen! Ich hab jetzt ein tolles Motorrad.«
»Du fährst doch aber nicht zu schnell?«
»Tz, wie eine Schnecke.«
»Lügner.«
Sie lächelte ihm unter Tränen zu.
»Hör auf damit, Omi, sonst fang ich auch noch an zu flennen.«
»Nein, du nicht. Du heulst doch nie. Nicht einmal als Kind, nicht einmal, als du dir den Arm verdreht hast, nie habe ich auch nur eine einzige Träne gesehen.«
»Hör trotzdem auf.«
Wegen der Schläuche traute er sich nicht, ihre Hand zu nehmen.

»Franck?«
»Ich bin da, Omi.«
»Ich habe Schmerzen.«
»Das ist normal, das geht vorbei, du mußt ein bißchen schlafen.«
»Es tut zu weh.«
»Ich sage es der Krankenschwester, bevor ich gehe, ich werde sie bitten, dir was zu geben.«
»Du gehst doch nicht gleich?«
»Aber nein!«
»Erzähl mir was. Erzähl mir von dir.«
»Warte, ich mach das Licht aus. Dieses Licht ist einfach zu gräßlich.«

Franck zog die Jalousien hoch, und das Zimmer, das nach Westen ging, wurde plötzlich in sanftes Dämmerlicht getaucht. Anschließend verrückte er den Sessel, um neben ihrer guten Hand zu sitzen, und nahm sie in seine.

Es fiel ihm anfangs schwer, die richtigen Worte zu finden, er, der noch nie ein großer Redner war und auch nicht gern von sich erzählte. Er fing mit Kleinigkeiten an, dem Wetter in Paris, der Umweltverschmutzung, der Farbe seiner Suzuki, der Beschriftung der Speisekarten und dergleichen.


Und dann, angeregt durch die Abenddämmerung und das fast schon friedliche Gesicht seiner Großmutter, wurden seine Erinnerungen präziser, seine Vertraulichkeiten größer. Er erzählte ihr, warum er sich von seiner Freundin getrennt hatte und wie die Frau hieß, die er im Visier hatte, von seinen Fortschritten in der Küche, seiner Müdigkeit. Er imitierte seinen neuen Mitbewohner und hörte seine Großmutter leise lachen.
»Du übertreibst.«
»Überhaupt nicht, ich schwörÕs! Du wirst ihn kennenlernen, wenn du uns besuchen kommst, und dann wirst du sehen.«
»Ich habe überhaupt keine Lust, nach Paris zu fahren.«
»Dann kommen wir halt zu dir, und du kochst uns was Gutes!«
»Meinst du?«
»Ja. Du machst ihm deinen Kartoffelkuchen.«
»Nicht doch, das nicht... Das ist viel zu deftig.«

Anschließend erzählte er ihr von der Stimmung im Restaurant, den Rüffeln seines Chefs, dem Tag, an dem ein Minister in die Küche kam, um sie zu beglückwünschen, von der Geschicklichkeit des kleinen Takumi und vom Trüffelpreis. Er erzählte ihr, was es Neues von Momo und Madame Mandel gab. Schließlich schwieg er, um ihren Atemzügen zu lauschen, und merkte, daß sie eingeschlafen war. Er stand ganz leise auf.

Als er gerade aus der Tür gehen wollte, rief sie ihn zurück:
»Franck?«
»Ja?«
»Ich habe deiner Mutter nichts gesagt, weißt du?«
»Gut so.«
»Ich...«
»Psst, du mußt jetzt schlafen, je mehr du schläfst, um so schneller bist du wieder auf den Beinen.«
»War das richtig?«
Er nickte und legte den Finger auf den Mund.
»Ja. Mach dir keine Sorgen, schlaf jetzt.«

Das grelle Neonlicht traf ihn mit voller Wucht, und er brauchte ewig, um den Weg nach draußen zu finden. Die Krankenschwester von vorhin erwischte ihn im Flur.

Sie deutete auf einen Stuhl und schlug die entsprechende Akte auf. Dann stellte sie ihm zunächst ein paar praktische und verwaltungstechnische Fragen, aber der junge Mann reagierte nicht.
»Alles in Ordnung?«
»Müde.«
»Haben Sie noch nichts gegessen?«
»Nein, ich...«
»Warten Sie. Wir haben alles hier.«
Sie holte eine Dose Ölsardinen und ein Päckchen Zwieback aus der Schublade.
»Ist das okay?«
»Und Sie?«
»Kein Problem! Sie sehen ja! Ich habe unzählige Kekse! Einen Schluck Wein dazu?«
»Nein, danke. Ich hole mir eine Cola aus dem Automaten.«
»Nur zu, ich genehmige mir ein Gläschen, um Ihnen Gesellschaft zu leisten, aber nichts verraten, ja?«

Er aß ein wenig, antwortete auf ihre Fragen und sammelte seine Sachen wieder zusammen.

»Sie sagt, sie hat Schmerzen.«
»Morgen wird es ihr bessergehen. Wir haben der Infusion entzündungshemmende Mittel beigegeben, beim Aufwachen wird sie wieder bei Kräften sein.«
»Danke.«
»Das ist mein Job.«
»Ich meine die Sardinen.«

Er fuhr schnell, ließ sich ins Bett fallen und vergrub sein Gesicht im Kopfkissen, um nicht loszuheulen. Nicht jetzt. Er hatte so lange durchgehalten. Er konnte noch ein wenig kämpfen.

7. Kapitel
»Kaffee?«
»Nein, eine Cola, bitte.«

Camille trank sie in kleinen Schlucken. Sie hatte sich dem Restaurant gegenüber, in dem sie mit ihrer Mutter verabredet war, in ein Café gesetzt. Sie hatte die Hände neben dem Glas auf den Tisch gelegt, die Augen geschlossen und atmete langsam. Diese Essensverabredungen, so selten sie auch waren, zerfetzten ihr stets die Eingeweide. Sie kam zusammengefaltet, taumelnd und wie lebendig gehäutet wieder heraus. Als wäre ihre Mutter darum bemüht, mit sadistischer und möglicherweise - wirklich? - unbewußter Akribie den Schorf aufzukratzen und tausend kleine Wunden eine nach der anderen wieder freizulegen. Camille erblickte sie im Spiegel hinter den Flaschen, als sie durch die Tür des Jadeparadieses trat. Sie rauchte eine Zigarette, ging nach unten auf die Toilette, bezahlte die Rechnung und überquerte die Straße. Die Hände in den Taschen, die Taschen vor dem Bauch zusammengeschoben.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 07.10.2005