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Sie war selbst von solch einem Gedanken überrascht und hörte mit einer gewissen Unbekümmertheit den Anrufbeantworter ab:

»Hier ist deine Mama. Das heißt...« kicherte die Stimme, »ich weiß nicht, ob du dir darüber im klaren bist, von wem die Rede ist. Deine Mama, weißt du? Das ist das Wort, das liebe Kinder aussprechen, wenn sie sich an ihre Erzeugerin wenden, glaube ich. Denn du hast eine Mutter, Camille, erinnerst du dich? Entschuldige, daß ich schlechte Erinnerungen in dir wachrufe, aber da es nun schon die dritte Nachricht ist, die ich dir seit Dienstag hinterlasse. Ich wollte nur wissen, ob wir immer noch zusammen ess...«

Camille würgte sie ab und stellte den Joghurt, den sie gerade angebrochen hatte, in den Kühlschrank zurück. Sie setzte sich im Schneidersitz hin, griff nach ihrem Tabak und versuchte, eine Zigarette zu drehen. Ihre Hände verrieten sie. Sie mußte mehrmals ansetzen, um das Papier nicht zu zerreißen. Konzentrierte sich auf ihre Bewegungen, als gäbe es auf der Welt nichts Wichtigeres, und biß sich die Lippen blutig. Es war zu ungerecht. Zu ungerecht, daß sie so litt, wegen eines Fetzen Papiers, wo sie fast einen normalen Tag hinter sich gebracht hatte. Sie hatte gesprochen, zugehört, gelacht, sich sogar gesellig gezeigt. Sie hatte vor dem Arzt kokettiert und Mamadou ein Versprechen gegeben. Das sah nach nicht viel aus, und doch... Es war lange her, daß sie zuletzt etwas versprochen hatte. Sehr lange. Und jetzt stießen ein paar Sätze aus einer Maschine sie vor den Kopf, zogen sie herunter und zwangen sie, sich hinzulegen, erdrückt, wie sie war, vom Gewicht irrsinniger Mengen Bauschutts.

5. Kapitel
»Monsieur Lestafier!«
»Ja, Chef!«
»Telefon...«
»Nein, Chef!«
»Was, nein?«
»Bin beschäftigt, Chef! Soll später noch mal anrufen.«
Der gute Mann schüttelte den Kopf und kehrte in das Kabäuschen zurück, das ihm hinter der Durchreiche als Büro diente.

»Lestafier!«
»Ja, Chef!«
»Es ist Ihre Großmutter.«
Kichern in der Versammlung.
»Sagen Sie ihr, daß ich zurückrufe«, wiederholte der junge Mann, der ein Stück Fleisch entbeinte.
»Nerven Sie nicht, Lestafier! Gehen Sie jetzt ans Telefon, verflucht noch mal! Ich bin hier doch nicht das Fräulein von der Post!«

Der junge Mann wischte sich die Hände an dem Geschirrtuch ab, das an seiner Schürze hing, fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn und sagte zu dem Jungen am Schneidebrett neben ihm, wobei er tat, als wollte er ihn abstechen:
»Du rührst hier nichts an, sonst... krrrr...«
»Schon gut«, meinte der andere, »geh deine Weihnachtsgeschenke bestellen, Omi wartet schon.«
»Blödmann.«

Er ging ins Büro und nahm seufzend den Hörer auf:
»Omi?«
»Franck, guten Tag. Es ist nicht deine Großmutter, Madame Carminot am Apparat.«
»Madame Carminot?«
»Jesses! War das schwer, dich aufzutreiben. Ich habe zuerst im Grands Comptoirs angerufen und erfahren, daß du dort nicht mehr arbeitest, dann habe ich...«
»Was ist los?« schnitt er ihr das Wort ab.
»Mein Gott, Paulette...«
»Moment mal. Bleiben Sie dran.«

Er stand auf, schloß die Tür, nahm den Hörer wieder auf, setzte sich, nickte, ganz blaß, suchte auf dem Schreibtisch nach etwas zum Schreiben, sagte noch ein paar Worte und legte auf. Er nahm seine Kochmütze ab, legte den Kopf in die Hände, schloß die Augen und verharrte einige Minuten in dieser Stellung. Der Chef betrachtete ihn durch die Glastür. Schließlich steckte er den Zettel in die Hosentasche und verließ das Büro.
»Alles in Ordnung, Junge?«
»Alles in Ordnung, Chef.«
»Nichts Schlimmes?«
»Der Oberschenkelhalsknochen...«
»Ach, das ist bei den alten Leutchen nicht selten. Meine Mutter hatte das vor zehn Jahren, und wenn Sie sie heute sehen würden... Wie eine Gemse!«
»Sagen Sie, Chef...«
»Hört sich an, als wollten Sie den Tag frei haben, was?«
»Nein, ich mache die Mittagsschicht und erledige die Vorbereitungen für heute abend in der Pause, aber dann würde ich gerne gehen.«
»Und wer kümmert sich heute abend ums warme Essen?«
»Guillaume. Der Junge schafft das.«
»Tatsächlich?«
»Ja, Chef.«
»Wer garantiert mir, daß er das kann?«
»Ich, Chef.«
Der Chef verzog das Gesicht, herrschte einen Jungen an, der gerade vorbeikam, und befahl ihm, das Hemd zu wechseln. Dann drehte er sich wieder zu seinem Chef de partie um und fügte hinzu:
»Ist gut, hauen Sie ab, aber ich warne Sie, Lestafier, wenn heute abend eine Sache schiefläuft, wenn ich eine Bemerkung machen muß, eine einzige nur, hören Sie? Dann fällt es auf Sie zurück, ist das klar?«
»Ja, hab verstanden, Chef.«

Er kehrte an seinen Platz zurück und nahm das Messer wieder in die Hand.
»Lestafier! Waschen Sie sich zuerst die Hände! Wir sind hier nicht auf dem Land!«
»Leck mich«, murmelte er und schloß die Augen. »Ihr könnt mich alle mal.«

Schweigend machte er sich wieder an die Arbeit. Nach einer Weile wagte sein Gehilfe einen Vorstoß:
»Alles in Ordnung?«
»Nein.«
»Ich hab gehört, was du dem Dicken erzählt hast... Der Oberschenkelhals, stimmtÕs?«
»Ja.«
»Ist es schlimm?«
»Nee, glaub nicht, aber das Problem ist, daß ich ganz allein bin.«
»Ganz allein womit?«
»Mit allem.«
Guillaume verstand nicht, zog es aber vor, ihn mit seinen Sorgen in Ruhe zu lassen.

»Wenn du gehört hast, wie ich mit dem Alten gesprochen hab, dann hast du auch das mit heute abend kapiert?«
»Yes.«
»Kannst duÕs mir garantieren?«
»Das muß sich auszahlen...«
Sie arbeiteten schweigend weiter, der eine über seine Kaninchen gebeugt, der andere über seine Lammrippen.
»Meine Maschine...«
»Ja?«
»Die leih ich dir am Sonntag.«
»Die neue?«
»Ja.«
»He«, pfiff der andere, »er mag seine Omi. Okay. Bin dabei.«
Franck hatte einen bitteren Zug um den Mund.
»Danke.«
»He?«
»Was ist?«
»Wo ist denn die Alte?«
»In Tours.«
»Dann brauchst du dein Bike doch am Sonntag, wenn du zu ihr willst?«
»Ich kann mich anders behelfen.«
Die Stimme des Chefs fuhr dazwischen:
»Ruhe, die Herren! Ruhe, bitte!«
Guillaume schärfte sein Messer und nutzte das Geräusch, um zu murmeln:
»Okay... Du kannst sie mir leihen, wenn die Alte wieder gesund ist.«
»Danke.«
»Sag das nicht. Ich werde dir dafür die Stelle stibitzen.«
Franck Lestafier schüttelte lächelnd den Kopf.

Er sprach kein Wort mehr. Die Schicht kam ihm länger vor als sonst. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren, er brüllte, wenn der Chef die Bons hereinschickte, und achtete darauf, daß er sich nicht verbrannte. Um ein Haar hätte er ein Rippenstück versaut und schimpfte ununterbrochen leise vor sich hin. Er dachte daran, wie beschissen sein Leben ein paar Wochen lang sein würde. Es war schon nicht ohne, an sie zu denken und sie zu besuchen, wenn sie gesund war, aber jetzt. Was für ein Schlamassel, verflucht. Das hatte gerade noch gefehlt. Er hatte sich eben erst ein sündhaft teures Motorrad gegönnt, mit einem endlos langen Kredit, und sich für zahlreiche Extraschichten verpflichtet, um die Raten zahlen zu können. Wo sollte er sie in alledem noch unterbringen? Na ja... Er wollte es sich nicht eingestehen, aber er freute sich auch über den glücklichen Zufall. Der dicke Titi hatte seine Maschine frisiert, und er würde sie auf der Autobahn ausprobieren können.
Wenn alles gutging, würde er seinen Spaß haben und wäre in gut einer Stunde da. Er blieb während der Pause also allein mit den Tellerwäschern in der Küche. Rührte seinen Fond, machte eine Bestandsaufnahme seiner Waren, numerierte die Fleischstücke durch und hinterließ Guillaume eine lange Nachricht. Er hatte nicht die Zeit, noch einmal zu Hause vorbeizuschauen, er duschte in der Umkleide, suchte nach etwas, um sein Visier zu reinigen, und zog konfus davon.
Glücklich und sorgenvoll zugleich.

6. Kapitel
Es war noch keine sechs Uhr, als er sein Motorrad auf dem Krankenhausparkplatz abstellte.
Die Dame am Empfang teilte ihm mit, daß die Besuchszeit vorbei sei und er am nächsten Tag ab zehn Uhr wiederkommen könne. Er insistierte, sie wurde bockig.


(wird fortgesetzt)

Artikel vom 06.10.2005