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Mehr als zwölf Prozent aller Kinder sind bei ihrer Einschulung noch in logopädischer Behandlung. Und ein großer Prozentsatz erfährt diese Förderung überhaupt nicht. Die Folgen können fatal sein: »Selbst leichte Sprachfehler können zu Schwierigkeiten beim Lesen- und Schreibenlernen führen«, betont Heidi Macha-Krau. Bis zur Einschulung sollten sie also eigentlich behoben sein.
Natürlich entwickeln sich Kinder unterschiedlich, und natürlich ist nicht alles prompt behandlungsbedürftig. »Aber es gibt doch Auffälligkeiten, die Eltern nicht ignorieren sollten.« Etwa, wenn ein Kind mit 18 Monaten keine ersten Worte spricht, wenn es mit zwei Jahren kaum über »Mama« und »Papa« hinaus gekommen ist und keine Zwei-Wort-Sätze bildet, wenn es sich nach dem vierten Geburtstag unverständlich artikuliert, einfache Inhalte nicht wiedergeben kann und die Sätze grammatikalisch falsch sind. Der Kinderarzt oder auch der Hals-Nasen-Ohren-Arzt werden nach den Ursachen forschen - und gegebenenfalls an einen Logopäden überweisen.
Denn längst ist es nicht damit getan, ein Lispeln zu korrigieren oder dem Kind zu vermitteln, dass es »Kirsche« und nicht »Kirse« heißt - wobei auch Letzterem durchaus zugrunde liegen kann, dass ein Kind das »Sch« überhaupt nicht hört, es vom »s« nicht unterscheiden kann. Sprech- und Artikulationsstörungen können die Folge von eingeschränkter Beweglichkeit der Lippen oder Zunge sein, von einem Muskelungleichgewicht, von Hör- oder Hirnstörungen. Sprachstörungen hingegen weisen auf Probleme beim Spracherwerb hin und können den Wortschatz, die Aussprache oder die Grammatik betreffen. Ursachen können neben einer verlangsamten Entwicklung Behinderungen, entzündliche Hirnprozesse oder Hörstörungen sein. »Unbehandelt ziehen diese Probleme andere Probleme nach sich: in der Schule, im Sozialverhalten, in der Persönlichkeitsentwicklung«, betont Macha-Krau.
Artikulation und Lautbildung werden mit den Kindern trainiert, die richtige Atmung und Haltung, das richtige, unangestrengte Sprechen und das richtige Schlucken. Denn »falsches« Schlucken, eine falsche Zungenhaltung, bei der die Vorderzähne nach vorne gedrückt werden, kann auch kieferorthopädische Probleme verursachen. Aber auch Sprachverständnis und -produktion, das Lesen und Schreiben üben die Logopäden spielerisch ein und testen dabei - unbemerkt für das Kind -, wo die Schwachstellen sind.
»Zunehmend haben wir es heute auch mit auditiven Verarbeitungsstörungen zu tun«, erklärt die Fachfrau: Was gehört wird, wird nicht unbedingt richtig zum Gehirn weitergeleitet und dort verarbeitet. Ein Hauptproblem, wissen die Logopäden, liegt heute häufig in der mangelnden Konzentrationsfähigkeit.
Die wiederum führen Heidi Macha-Krau und ihre Kolleginnen auf eine veränderte Umwelt, auf andere gesellschaftliche Einflüsse zurück. »Die Kinder bekommen weniger Anregungen, erfahren oft weniger Zuwendung. Dafür aber sind die Kinderzimmer perfekt ausgestattet - mit elektronischen Medien. Am Computer sind alle topfit, die Sprachkompetenz lässt dafür aber nach.« Auch Dinge, die für frühere Generationen normal waren, sind seltener: Das gemeinsame Singen, dazu das Klatschen im Takt, Fingerspiele, Reime und Abzählverse: »Das fördert das Rhythmusgefühl, und spielerisch werden Texte gelernt. Die einfache Melodieführung der alten Kinderlieder - wie zum Beispiel 'ein Männlein steht im Walde' - ist dafür besonders geeignet.«
Den Logopäden - knapp drei Dutzend arbeiten in Bielefeld in eigenen Praxen - liegt daran, auf die Chancen der Früherkennung und -behandlung hinzuweisen. Bei Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten zum Beispiel sollte die Therapie spätestens mit drei Jahren beginnen: damit die Sprachentwicklung nicht verzögert wird und das Kind gar nicht erst zum Außenseiter wird. »Bei einer hochgradigen Sprachentwicklungsstörung kann ein Behandlungsbeginn mit fünf Jahren schon zu spät sein: weil das Kind dann in einem Jahr - also bis zur Einschulung - alles aufholen muss.«

Artikel vom 24.09.2005