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Bauwerke so musikalisch
wie Jazz und Pop
Frank O. Gehry hinterlässt eigene Handschrift
Steht man vor einem Gebäude von Frank O. Gehry, so weiß der aufmerksame Betrachter sofort Bescheid. Einen Gehry erkennt man anhand seiner einzigartigen Architektur immer und überall. Für Architektur-Fans sind die Häuser vielbesuchte Pilgerstätten geworden.
Bauten, die ihrer Zeit weit voraus sind. Und ihr Erfinder, der den Häusern das Tanzen beigebracht hat - er wird vielleicht einmal als der Meister gelten, der das 20. Jahrhundert, in einer Zeit der Nachahmung und der abgenutzten Zitate, mit unverbrauchten Visionen zuende gehen ließ. So unverbraucht, wie die Moderne am Anfang des Jahrhunderts war.
Sieben Gebäude hat der Guru der runden Formen und avantgardistischen Architektur bislang in Deutschland geschaffen. Eines aber weiß auch der geschulte Betrachter nicht sofort als Gehry-Bau einzuordnen. Am Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor in Berlin steht die Zentrale der DZ-Bank. Und beim Wiederaufbau des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Ensembles galten strenge Gestaltungsvorschriften, über die sich auch der kalifornische Stararchitekt nicht hinwegsetzen konnte. Aber Gehry wäre eben nicht Gehry, wenn er seine unnachahmliche Handschrift nicht dennoch angebracht hätte - und zwar im Inneren des Bauwerks.
Öffnet man die schweren Türen, steht man im Foyer, welches sich zu einem Atrium öffnet. Und dort fällt der Blick auf den »Wal«, eine begehbare Skulptur aus Edelstahl. Gehry betonte gegenüber dem WESTFALEN-BLATT: »Das ist die beste Form, die ich in meinem bisherigen Leben gemacht habe!« Die Besichtigungsmöglichkeiten sind freilich eng begrenzt: Weil die Touristen immer wieder Zugang begehrten, hat sich die Bank dazu durchgerungen, wenigstens von einer Barriere im Foyer einen Blick auf den »Wal« zu gestatten.
Markant und unverwechselbar am Gehry-Tower in Hannover ist seine äußere Form, die durch die Neigung und Verdrehung des Baukörpers um die lotrechteÊ Mittelachse erreicht wird: Dies bewirkt, dass die Traufe gegenüber dem Erdgeschoss um bis zu 2,50 Meter auskragt und eine Wölbung der Außenwandflächen entsteht. Die Außenwände des Gebäudes an der Goethestraße nahe dem Steintorplatz sind mit einer Edelstahlfassade verkleidet. Die Fenster, ebenfalls aus Edelstahl, mussten individuell angefertigt werden. Das Gebäude dient dem Nahverkehrsbetrieb »Üstra« als Firmenzentrale.
Weiter geht die Reise auf Gehrys Spuren nach Bad Oeynhausen, wo sich der Meister gleich zweimal verewigt hat. Im »Energie Forum Innovation« dürfen sich Besucher montags bis freitags einen Film über das Gebäude anschauen sowie eine Ausstellung zum Thema »Energie« besuchen. Führungen gibt es nur für angemeldete Gruppen. Den größten Teil des Gebäudes nehmen Büros der Firma »EON« ein.
Am Rande des Kurparks in Bad Oeynhausen steht das von Frank Gehry konzipierte Elternhaus der Kinderherzklinik, zu dessen Errichtung die WESTFALEN-BLATT-Leser mit großzügigen Spenden maßgeblich beitrugen. Der außergewöhnliche Bau, der sich von anderen Gehry-Werken optisch deutlich abhebt, beherbergt zwölf Appartments, die glasgesäumten Flure führen zum Mittelpunkt des Hauses. Zwölf Meter schraubt sich das wie ein Schneckenhaus geformte Edelstahldach in Richtung Himmel. Touristische Besuche sind nicht möglich, nur von außen darf man einen Blick auf das Gebäude werfen.
Der neueste Geniestreich des Meisters des Dekonstruktivismus steht in Herford und heißt »MARTa«. Wie alle Gehry-Bauten wirkt es wie eine Collage, in der auseinanderstrebende Bauelemente verknüpft werden, die ein Ineinanderfließen der Räume realisieren sollen. Abgewinkelte Ebenen, kippende Räume, umgekehrte Formen und eine gebrochene Geometrie sind die wichtigsten Stilelemente Gehrys. Was einmal als »Haus des Möbels« angedacht war, hat sich zu einem interdisziplinären Projekt von Kunst, Architektur und Design entwickelt, dem der renommierte Ausstellungsmacher Jan Hoet als künstlerischer Direktor vorsteht. MARTa ist dienstags bis sonntags von 11 bis 18 Uhr geöffnet.
Auch der »Neue Zollhof« in Düsseldorf, Eigentum des Gerling-Konzerns, ist trotz großer Konkurrenz schnell zum beliebtesten Ensemble am alten Hafenbecken avanciert. Er steht gleich am Beginn der Medienmeile, wo einst unverzollte Ware zwischengelagert wurde. Die drei gerundeten, verwinkelten, windschiefen Türme wirken wie geknetet. Keines der knapp 1600 Fenster gleicht dem anderen.
Gehrys erstes Werk in Europa war das Vitra-Design-Museum in Weil am Rhein, unmittelbar an der Grenze zur Schweiz gelegen. 1989 galt es als Sensation, wurde aber auch als »breitgetretene, taumelnde Fetthenne« diffamiert.
Ein krasses Fehlurteil! Denn Frank O. Gehry wollte Schluss machen mit der Postmoderne, die die 80er Jahre beherrschte. Keine schicken Fassadenspielereien mehr, sondern Dissonanzen im Gebäude, so ehrlich und improvisiert wie die chaotische Baulandschaft seiner Heimat in Kalifornien, so musikalisch wie Jazz und Pop.
Weniger um große Gebäude als vielmehr um kleine Details geht es übrigens beim neuesten Projekt Gehrys: Für den berühmten Juwelier Tiffany entwirft der Architekt sechs Schmuckkollektionen. Laut der »New York Post« sollen seine Kreationen von April 2006 an in amerikanischen, im darauffolgenden Herbst auch in europäischen Läden erhältlich sein. Thomas Albertsen

Artikel vom 01.10.2005