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Tränen bei »Süßer die Glocken nie klingen«

Der pensionierte Pfarrer Wilhelm Johanning und sein musikalischer Kontakt nach Estland


Brackwede (mp). Wilhelm Johanning war 29 Jahre alt und Volksschullehrer in Neuenknick (Kreis Minden), als er die Stimme Gottes hörte: »Studiere Theologie und werde Pastor«, sagte sie zu ihm. Er wusste sofort, was zu tun war, lernte Hebräisch und Griechisch, absolvierte das empfohlene Studium und wurde tatsächlich evangelischer Pastor in Schnathorst/Tengern. In dieser Funktion begleitete er Jahre später einen sterbenden Posaunenspieler in den Tod. Daraus entwickelte sich ein ganz besonderer Kontakt ins Baltikum. Von seiner späten Liebe zu Estland berichtete Wilhelm Johanning jetzt im Brackweder Erzählcafé des Treffpunkts Alter.
»Wer etwas geben will, der soll es geben für einen notleidenden Posaunenchor«, hatte der Musiker Gustav Buchholz im März 1991 vom Sterbebett geflüstert. So kam es, dass Pastor Wilhelm Johanning von dessen Angehörigen 1 400 DM in die Hände bekam. Jetzt galt es, besagten notleidenden Posaunenchor zu finden. Da schaltete sich Pastor Toomas Pöld ein, ein gebürtiger Este, der die Verbindung zu seiner in Tartu/Estland lebenden Schwester herstellte. Die Menschen dort seien, nach Ende des Bolschewismus, generell noch sehr schlecht versorgt und bräuchten dringend Hilfe, hieß es. So ging das Geld im Sommer 1991 nach Estland.
Bei den Waldhornbläsern in Tartu - einen Posaunenchor gab es dort noch nicht - erregte die Spende ein derart großes Aufsehen, dass sich daraus eine langjährige Freundschaft zwischen den Gemeinden, den Musikern und Familien beider Länder entwickelte - mit vielen Besuchen und Gegenbesuchen. »Inzwischen war ich 15-mal drüben, mit dem Bus, mit dem Schiff oder per Flugzeug«, erzählt der seit 1993 pensionierte Johanning stolz. »140 Instrumente, darunter auch eine Heimorgel aus Oelde, haben wir schon nach Estland geschenkt. Fünf neue Bläserchöre sind daraus entstanden.« Auf jeder Fahrt hätten sie zudem Fahrräder, Brillen, mal eine Melkmaschine oder Lebensmittel mitgenommen. Einige Spenden hätten sie unterwegs bei Hilfsbedürftigen in Königsberg abgeladen.
Eines Tages sei dann ein gewisser Kalev Laanesaar, der Kirchmeister aus der benachbarten Kleinstadt Kambja, zu ihm nach Tartu gekommen und habe ihn gefragt: »Sag`mal Willi, Du besorgst doch sonst alles. Kannst Du uns nicht mal neue Glocken für unsere Kirche mitbringen...?« Was für andere sicherlich wie eine unlösbare Aufgabe klang, war für Wilhelm Johanning gerade die richtige Herausforderung: Er knüpfte Kontakte zu spendenfreudigen Kaufleuten in Tengern und konnte ihnen das Vorhaben tatsächlich schmackhaft machen. Nach Ende der Vermessungsarbeiten wurden im Sommer 2002 in Duisburg drei neue Glocken gegossen und mit einem Lastzug nach Kambja gebracht. »Bei der Einsegnung am 1. Dezember 2002 waren alle zu Tränen gerührt«, berichtet Johanning weiter. »Natürlich haben wir "Süßer die Glocken nie klingen" gesungen...«
Die Kirche von Kambja, deren Ruine seit dem zweiten Weltkrieg, also über Jahrzehnte nur als Notlösung genutzt wurde, erstrahlt heute in neuem Glanz. Denn auch der Innenausbau (Bodenbelag, Bänke, Altar) ist mit deutscher Hilfe inzwischen fast abgeschlossen. So konnte sich Wilhelm Johanning zuletzt schon mal anderswo in Estland umsehen und die Kultur des Landes kennenlernen. Besonders schwärmt er vom großen Sängerfest, das alle fünf Jahre in der Hauptstadt Tallin gefeiert wird: »Da singen 30 000 Esten von morgens bis abends - egal, ob es regnet oder stürmt. Die Freude und die Begeisterung dieser Leute in puncto Musik ist unbeschreiblich.« Ein handgearbeitetes Akkordeon hat sich Johanning von dort als Souvenir mitgebracht.

Artikel vom 22.09.2005